Wir müssen leider draußen bleiben
zehn Prozent der Bedürftigen. Mehr als elf Millionen Menschen leben in Deutschland unter oder nahe an der Armutsgrenze – aber nur eine Million hat Zugang zu Tafeln, die keine flächendeckende Versorgung gewährleisten können. Prinzipiell kann jeder, sofern er sich den acht Tafelgrundsätzen verpflichtet, eine Tafel eröffnen. So kommt es, dass die Versorgungsdichte in reichen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein, Hamburg und Bayern besonders hoch ist, während es in den neuen Bundesländern, wo wiederum der Bedarf besonders hoch wäre, kaum Tafeln gibt.
Im Büro der Münchner Tafel hängt ein Stadtplan, übersät von Stecknadeln mit kleinen Fähnchen in unterschiedlichen Farben. Die Tafel versorgt in München nicht nur Bedürftige an den 24 Ausgabestellen, sondern auch mehr als 85 soziale Einrichtungen sowie Schulen mit Lebensmitteln. Und trotzdem erreicht die Tafel auch hier nur knappe zehn Prozent der Bedürftigen. Das Büro der Münchner Tafel befindet sich im denkmalgeschützten Kontorhaus auf dem Großmarktgelände. Im Eingang prangt ein Messingschild aus alter Zeit: »Betteln und Hausieren verboten«. Tatsächlich, erzählt die Gründerin Hannelore Kiethe, komme es vor, dass Menschen so hungrig und verzweifelt vor der Tür stünden, dass sie diese erst einmal zu den Kollegen im Lagerraum schicken müsse, wo sie sofort etwas zu essen bekommen. »Die wissen nicht mehr, wovon sie leben sollen, man kann sich das gar nicht vorstellen. Das sind nicht wenige, selbst in der reichen Stadt München«, sagt Hannelore Kiethe. Sie sagt das mit echter Empörung. Froh sei sie, dass sie diesen Menschen wirklich helfen könne. Es ist ihr ein Anliegen, doch trotz guten Willens und bei aller Professionalität sind zehn Prozent das Limit: »Wir können nicht alle Bedürftigen versorgen. Klar sind die zehn Prozent, die wir erreichen, nicht befriedigend. Aber wir sagen: Wir tun was, und die, die wir erreichen, die haben halt das Glück gehabt. Die anderen müssen leider so klarkommen. Natürlich würde ich am liebsten alle aufnehmen.«
Härtefälle, sagt Kiethe schnell, würden natürlich sofort ver sorgt – entsprechend der ursprünglichen Idee der Tafeln. Doch längst sind es keine Härtfälle mehr, also etwa Obdachlose, sondern Bürger, die so tief in die Armut gerutscht sind, dass sie auf Essensausgaben, Suppenküchen und Kleiderkammern angewiesen sind. Immer neue Leute möchten die Tafeln nutzen, die Wartelisten sind lang, aber nur wenige haben die Chance nachzurücken – denn Armut ist heute bei den Allermeisten keine Episode, sondern Dauerzustand. Jeden Tag stehen an den Aus gabestellen Menschen, die ihre Scham überwunden haben und auf Hilfe hoffen. Gebeugt und mit erschöpften Gesich tern, aufgerissene Kuverts mit Amtsbescheiden in der Hand, so stehen sie da und warten, bis sie vorsprechen dürfen. Manche von ihnen haben bereits Taschen dabei, beobachten aufmerksam die Schlange, in der die Menschen ihre Tüten gefüllt bekommen.
Doch für die meisten gibt es nur einen Platz auf der Warteliste. Sie sind die Ausgeschlossenen unter den Ausgeschlossenen. Auch in der sogenannten Unterschicht gibt es Klassenunterschiede. So gern die Tafel helfen will, sie verstärkt diese Ungerechtigkeit, anstatt sie zu beseitigen. Denn einen Anspruch auf Versorgung bei den Tafeln besteht nicht: »Wir sind kein Amt, wir leisten freiwillig Hilfe. Wir bemühen uns sehr – aber einen Anspruch darauf gibt es nicht. Man muss zu uns kommen und um Hilfe bitten«, sagt Kiethe.
So liegt es im Ermessen der Tafelverantwortlichen, wer ihre Hilfe in Anspruch nehmen darf und wer nicht. Und teilweise auch, wie diese Hilfe organisiert wird. So hat die Münchner Tafel den Anspruch, ihren Nutzern eine Art Vollversorgung zu bieten. »Zukauf« ist den im Bundesverband organisierten Tafeln eigentlich verboten, soll es doch um das Verteilen überschüssiger Ware gehen. Doch die Münchner Tafel gehört keinem Verbund an. »Wir wissen heute, dass ganz viele Menschen, die wirklich schlecht dran sind, von unseren Lebensmitteln leben, die wir jede Woche ausgeben. Es ist unser Anliegen, sie so zu versorgen, dass sie gut über die Woche kommen. Wir wollen unsere Arbeit ordentlich machen«, sagt Kiethe. Der Ehrgeiz, die Menschen komplett zu versorgen, hat aber auch eine Kehrseite: Zum einen drängt es die Nutzer noch mehr in die Passivität der Empfangenden, wenn ihnen suggeriert wird, dass sie alles Nötige bei den Tafeln
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