Wir neuen Großvaeter
bist!«
Als ich meinen Enkeln diese Geschichte erzählte, beschlossen sie, auch Briefe an sich selbst zu schreiben, wenn sie sieben Jahre alt geworden sind.
Mein eigener »Brief an die Zukunft« befindet sich tief unter dem mittelalterlichen Kapellenplatz der kleinen Schwarzwald-Stadt Rottweil in einem überdimensionalen Würfel aus Edelstahl. An Silvester 1999 wurde der Kubus versenkt. Eine Gedenkplatte erinnert die Nachfahren rechtzeitig daran, dass der Würfel im Jahre 2099 zu öffnen und die darin enthaltene Post an die angegebenen Adressaten zu senden ist.
Den Initiatoren ging es um eine kollektive Hinterlassenschaft für die Nachwelt, Texte der Generationen der Jahrtausendwende 2000, die in keinem Geschichtsbuch, keiner Zeitung, keinem Roman zu finden sind. Nachdenkliche, ganz intime Zeilen. Die Briefe sollten persönlich adressiert sein, an die Nachkommen, an die Eigentümer des bewohnten Hauses, an die Bundesregierung oder das Rathaus der Gemeinde, in der man zu Hause ist.
Im hundertjährigen Dornröschenschlaf schlummern seitdem etwa 40.000 Botschaften an die Zukunft, verfasst auch von jungen Menschen, die sich beim Schreiben darüber klar waren, dass sie längst tot sind, wenn ihre Zeilen gelesen werden.
Jeder Brief steht für eine kleine Brücke über die Zeiten, verbindet Gegenwart mit Zukunft und ist längst Vergangenheit, wenn er den unbekannten Adressaten erreicht. Die Rottweiler Organisatoren hoffen jedenfalls, dass ihre Nachkommen jedes Schreiben weiterleiten, nachdem feierlich der Kubus geöffnet worden ist.
Wie sich die Welt genau verändern wird, ist nicht vorhersehbar. Das Wissen auf der Erde verdoppelt sich in immer kürzeren Abständen. Die neuen Kommunikationstechniken entwickeln eigene Gesetze; die gesellschaftlichen Auswirkungen, die sie erzeugen, sind auch bei Anwendung gröÃter Fantasie nicht absehbar.
Ich habe meinen »Brief an die Zukunft« an die Leser des Luxemburger Wort gerichtet, für das ich als Korrespondent tätig bin, und das bereits seit 150 Jahren die Zeitungslandschaft des GroÃherzogtums bereichert. So hoffe ich, dass ein solch traditionelles Blatt noch weitere hundert Jahre existiert, auf Papier oder elektronisch.
Was die Menschen im Jahre 2099 über die Vergangenheit wissen wollen, erschlieÃt sich ihnen aus unzähligen Quellen, auf denen meine Zeitgenossen mit ihren Gesichtern und ihren Stimmen erhalten geblieben sind.
Noch nie zuvor ist Geschichte so präzise auf Datenträgern dokumentiert worden, wie im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert. Für uns »Absender« war es schwierig, einen passenden Ansprechpartner in der Zukunft zu finden. Wird es überhaupt Nachkommen von mir geben, an die ich mich wenden kann?, fragten sich viele. Auch mir ist schleierhaft, wer aus meiner Familie am Silvestertag 2099 noch lebt und ob Leo, Max und Ferdinand als fidele Greise mit ihren Enkeln gerade an der Côte dâAzur spazierengehen. Immerhin besteht für die Knaben die statistische Wahrscheinlichkeit, hundert Jahre und älter zu werden.
Mein Brief aus dem Jahre 1999 muss den heute noch nicht geborenen Lesern wie eine Botschaft aus dunkler, ferner Zeit erscheinen. Ich kann nicht einmal ahnen, wie sich die Welt und
ihre Bewohner in den kommenden neunzig Jahren verändern werden. Doch baue ich auf die Erkenntnis, dass wir Menschen erstaunlich lernfähige Wesen sind und unser geistiges Potenzial schier unerschöpflich ist.
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Meine Botschaft, die in der stählernen Zeitkapsel schlummert, lautet jedenfalls: Es ist alles in allem ein gutes Leben, das ich mit meiner Familie und mit meinen Freunden hier in der Mitte Europas führe. Wir haben die Wahl zwischen Reisen in die weite Welt und den Weinfesten an der Mosel, wir können frei unsere Meinung sagen, und es bleibt stets genügend MuÃe für ein gutes Glas vom edlen Roten. Einige von uns haben eine Lebenseinstellung gefunden, die mehr auf die ideellen als auf die materiellen Werte achtet: Wir sollten mehr sein als haben . Bestimmt gibt es noch ein anderes Ziel im Leben, als möglichst viele Dinge zu besitzen. Wer in einer stillen Stunde auf sein bisher geführtes Dasein zurückschaut, wird feststellen, dass die besten Augenblicke ohnehin nicht für Geld zu haben waren. Solche Erkenntnisse überdauern die Zeiten.
Ich hoffe sehr, dass unsere Nachkommen auch den Gesang des frühen Vogels hören
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