Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten
Plane über der Ladefläche vor. Sie hielten vor dem EL-DE- Haus, Schlapphüte stiegen aus und stellten sich an den Bordstein. Die hintere Ladeklappe fiel und Menschen wurden herausgezerrt und in das Haus oder umgekehrt aus dem Haus getrieben. Und all das in einer seltsamen Hast – morgens, mittags und abends. Es schien etwas Normales zu sein. Kein Entsetzen, keine Empörung bei den Menschen auf dem Appellhofplatz.
Paul wartete manchmal auf Ziegen oder Klapproth. Bastian und Hotte hatten ihm die beiden so genau beschrieben, dass er überhaupt keine Mühe hatte, sie zu erkennen. Er machte sich einen Spaß daraus, ihnen hinterherzulaufen, ihnen wie ein Schatten zu folgen.
Am liebsten beobachtete er Ziegen. Auf Ziegen schien niemand zu warten. Er bewegte sich wie jemand, der viel Zeit hat. Fast immer kehrte er nach seinem Arbeitstag in die Hansestuben ein, eine Eckkneipe, und blieb dort auf zwei, drei Gläser Kölsch. Paul hatte Geduld und er hatte auch Zeit. Doch manchmal ging er schon voraus und wartete in der Marzellenstraße auf ihn. Bei Ziegen lief alles nach Plan. Der Mann funktionierte wie ein Uhrwerk. Das machte den Gestapomann berechenbar.
Sorgen musste man sich nur machen, wenn er das EL-DE- Haus nicht pünktlich verließ. Wenn er nicht herauskam und in die Marzellenstraße einbog, ein Büffel mit dem wehenden Mantel, die abgewetzte Aktentasche unter den Arm geklemmt, groß, wuchtig und den Hut tief im Gesicht. Denn wenn Ziegen im EL-DE- Haus blieb, drohte Gefahr. Dann ging in seinem Büro das Licht nicht aus und die Tür zum EL-DE- Haus stand nicht still. Dann zitterte sogar Paul da draußen vor der mächtigen Tür und vor dem, was sich dahinter abspielte.
Einmal sah er Ziegen und Karlu zusammenstehen. Der Junge erzählte etwas und unterstrich seine Worte mit rudernden Armbewegungen. Alles, was er sagte, schien wichtig zu sein, denn Ziegen schaute ihn aufmerksam an, die Hände in den Manteltaschen, die Aktentasche unter dem Arm. Er sah auf seine Armbanduhr, klopfte Karlu schließlich auf die Schulter. Und dann gingen beide in unterschiedliche Richtungen davon, nicht ohne vorher den rechten Arm zum Gruß erhoben zu haben. Das alles hatte nichts Gutes zu bedeuten.
Paul schlich auch Klapproth nach. Der wohnte in Mülheim am Rheinufer in einem gediegenen Häuschen mit Rosengarten und gepflegtem Rasen hinter sorgfältig gestutzten Hecken. Er hatte eine Familie. Eine kleine, hübsche brünette Frau. Adrett und sorgfältig gekleidet, wie Paul fand. Zwei kleine blonde Töchter, die Klapproth entgegenliefen, wenn er heimkam. Er hob sie hoch und wirbelte sie durch die Luft, bis sie vor Freude kreischten. Der SS-Mann als Papa verkleidet.
»Schnuckelig«, sagte Opa Tesch, als Paul ihm von Klapproth berichtete, und spuckte ins Gras. Von Karlu und Ziegen erzählte er ihm nicht. Wie Opa Tesch über die Gestapo dachte, war kein Geheimnis. Aber wegen Karlu hatte er genug Kummer. Da reichte die HJ -Uniform, um Opa in Rage zu bringen. Aber der Enkel als Gestapospitzel? Das wollte Paul ihm nicht zumuten.
Paul fand bei seinen Streifzügen auch heraus, dass es in Mülheim in der Schützenhofstraße einen Schwarzmarkt für Fleisch, Zigaretten und selbst gebrannten Schnaps gab. Er hatte bald begriffen, wie das alles funktionierte. Auf den richtigen Gesichtsausdruck kam es an: eine Mischung aus Interesse und Langeweile. Und nebenbei musste man mit einer gewissen Lässigkeit zeigen, dass man Geld hatte. Paul kaufte, was er kriegen konnte und was sich leicht in den Tiefen seiner Taschen transportieren ließ: Schnaps, Zigaretten, Lebensmittel.
Seine Mutter backte Brot und Bastian brachte es mit zu Pauls Hütte in der Kleingartenkolonie. Sie schmierten dick das frische Pflaumenmus darauf und tranken Muckefuck mit Kondensmilch, die gleich kartonweise »von einem Güterwagen gefallen« war. Genau vor Hottes Füße.
Seit Zacks Tod hatten sie eine Zeit lang keinen Bahntransport mehr ausgeräumt und keine Lebensmittel in das Kriegsgefangenenlager geschmuggelt. Bis Bastian eines Tages sagte: »Wenn wir damit aufhören, war alles umsonst und Zacks Tod nutzlos.«
»Ich bin dabei«, hatte Billi geantwortet, »ich kann Schmiere stehen.« Seitdem schmuggelten Hotte, Fatz, Freddie, Bastian und Ralle wieder Lebensmittel in das Gefangenenlager in der alten Gasfabrik. Paul musste im Hintergrund bleiben. Darauf bestanden die anderen. Mit seinem Schwarzmarktschnaps bestachen sie die Posten im Lager.
Jetzt schlürften sie die letzten Tropfen
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