Wir toeten nicht jeden
Reisen auf die Insel nie meinen richtigen Pass benutze. Aber seine Begeisterung für Sizilien ist so groß, dass ich ihm diese Freude nicht vorenthalten mag und deshalb auch seine Neugier zu stillen versuche: Ich muss ihm haarklein beschreiben, was er zwar bereits aus Büchern und Filmen weiß, ich jedoch mit eigenen Augen gesehen habe.
»Und warum haben Sie Ihre Trattoria nicht aufgemacht, Professor?«, frage ich ihn schließlich. »Am fehlenden Geld ist es sicher nicht gescheitert, oder? … Außerdem kann ein erfolgreicher Schriftsteller doch eigentlich leben, wo er will.«
»Es ist zu spät, mein lieber Juan.«
Ich will schon einwenden, dass er für sein Alter doch noch ganz fit ist, aber er lässt mich nicht einmal zu Wort kommen.
»Es ist nicht so, dass es mich überfordern würde oder ich mich zu alt fühle. Nein, ich habe einfach den richtigen Zeitpunkt verpasst, und der kommt leider nicht wieder. Das hat nichts mit dem Alter zu tun, sondern mit der Sehnsucht. Meine Sehnsucht nach Sizilien kann ich inzwischen nur noch mit der Lektüre stillen und vielleicht auch mit einer Reise, die ich aus unerfindlichen Gründen seit Jahrzehnten immer wieder aufschiebe. Aber den richtigen Moment, um ein neues Leben zu beginnen, den habe ich ungenutzt verstreichen lassen, Juan. Wissen Sie, wenn man sein Leben lang viel liest, glaubt man irgendwann, dass das Leben wie ein Buch ist, in dem man zurückblättern kann, wenn man den roten Faden verloren hat. Aber das ist ein Trugschluss. Das Leben, das eigene Leben, kann man nur ein einziges Mal lesen – während man es lebt. Und kennen Sie etwas Schwierigeres, als im Gehen zu lesen?«
Ich kann nur den Kopf schütteln und frage mich dabei im Stillen, ob ich imstande sein werde, diesen Moment richtig zu lesen, oder ob ich in einigen Jahren mit derselben Wehmut daran zurückdenken werde, mit der Camilleri sich an sein eigenes Leben erinnert, in dem ich eine Frau und dunkle Schatten erahne, vielleicht eine Liebe, die ihm keine Flügel verlieh. Und da überkommt mich auf einmal die Angst, ob ich überhaupt noch mehr solcher Augenblicke erleben werde, denn auf einen Schlag ist die Gefahr, die mein Beruf und dieser Urlaub voller Ungewissheiten und möglicher Fallstricke mit sich bringt, so offensichtlich, dass ich wie Espenlaub zu zittern beginne.
»Ja, es weht eine kräftige Brise vom Meer her«, sagt Camilleri und nickt bedächtig. »Aber nur auf dieser Seite. Vorne in der Bucht frieren die Pärchen angeblich nicht einmal in der Nacht, nachdem die Liebe sie übermannt hat.«
In seinem Blick liegt keine Ironie. Oder doch? Weiß denn jeder hier von unserer nächtlichen Eskapade? Die Erinnerung daran verscheucht aber zum Glück all meine Ängste und stimmt mich wieder zuversichtlicher.
Unterdessen sind wir am anderen Ende des weitläufigen Campingplatzes angekommen, wohin sich nur sehr wenige Camper verirren, wie dies die Felsen bestätigen, auf denen keine Kritzeleien von Rosas und Pacos ewiger Liebe oder der angeblichen Homosexualität eines gewissen Manuel zeugen, und ich auch sonst keine poetischen Ergüsse entdecke, mit denen die Felsen auf der anderen Seite übersät sind. Vor uns ragt ein schroffer Felsrücken auf, der in einem Vorsprung hoch über dem Meer endet.
»Kommen Sie, kommen Sie!«, drängt mich Camilleri.
Vor ihm steige ich den Berg hinauf und gehe oben vor bis zur Spitze des Felsvorsprungs. Der Felsen liegt höher, als ich dachte. Gut dreißig Meter unter mir donnert die tosende Brandung unablässig gegen die scharfkantigen Klippen; irgendwann wird sie sie bezwingen, was aber sicher noch Ewigkeiten dauern wird.
»Vorsicht, Juan! Wenn Sie hier stolpern, könnte das fatal enden.«
Der Professor ist neben mich getreten, blickt aber landeinwärts auf eine spärlich bewachsene Felskuppe, die sich über dem Bergrücken erhebt und die wir eben umrundet haben.
»Sehen Sie sie?«
»Was soll ich sehen?«
Der Professor antwortet nicht, sondern hopst wie ein Kind vor Freude herum, dass ich ihn instinktiv packe, damit er nicht stürzt. Mit stolzgeschwellter Brust macht er sich jedoch los und eilt den Pfad bis zur letzten Biegung zurück, wo der sehnige, alte Mann dann geradewegs den Felsen hochklettert. Ich folge ihm, und erst oben auf der Kuppe wird mir klar, dass der Felsen zwei Ebenen hat.
Auf einem natürlichen Plateau, das von unten nicht zu sehen war, liegt der Eingang zu einer Höhle. Er ist gut zwei Meter hoch und eineinhalb Meter breit. Innen öffnet sich
Weitere Kostenlose Bücher