Wo bitte geht's nach Domodossola
anderen Passanten umwandte, als wollte ich sagen »Was sagen Sie zu diesem Bau?«, doch sie eilten nur ungerührt weiter. Manchmal verstehe ich die Welt nicht mehr.
Der Abend rückte heran, und es begann zu nieseln. Mit hochgeschlagenem Kragen ging ich die dunklen Straßen des Rotlichtviertels entlang und betrachtete durch meine regennasse Brille das Angebot. Das Rotlichtviertel hatte sich verändert. 1973 war das Unverblümteste, das man hier zu sehen bekam, das Werbeschild für einen Club, auf dem zu lesen stand TOLLE FICKY-FICKY SHOW – LIVE AUF DER BÜHNE. Inzwischen nennt man die Dinge deutlicher beim Namen. Die Schaufenster waren gefüllt mit einer verwirrenden Vielfalt von Plastikphalli, Vibratoren, Peitschen, Videos, Salben, Magazinen, Lederklamotten und anderen Exotica, die man im allgemeinen nicht bei Woolworth findet. In einem Fenster entdeckte ich eine lebensgroße und erstaunlich naturgetreue Plastiknachbildung des weiblichen Genitalbereichs mit geweiteten Schamlippen. Es war scheußlich. Das Ding sah aus wie ein Modell für den Anatomieunterricht, und selbst da würden die Studenten bei diesem Anblick vermutlich reihenweise in Ohnmacht fallen. Die Magazine waren noch derber. Sie zeigten, wie sich alle erdenklichen Kombinationen von Paaren zusammenfanden, um unschöne Dinge miteinander zu treiben – Heterosexuelle, Homosexuelle, Sadomasochisten, grotesk fette Menschen und sogar Tiere. Auf einem Titelbild war eine Frau zu sehen, die – wie soll ich mich ausdrücken? – einem Pferd gewisse orale Dienste zuteil werden ließ, die ein Pferd normalerweise nicht von einem Menschen erwartet, nicht einmal von einem anderen Pferd. Ich staunte nicht schlecht. Und das war nur das Zeug, das sie im Fenster liegen hatten. Der Himmel weiß, was sich alles unter ihren Ladentischen verbirgt. Die Huren waren noch da. In phosphoreszierenden Bodys saßen sie in rosa beleuchteten Fenstern und zwinkerten mir zu. (»Hey, die mögen mich!« dachte ich, bis ich merkte, daß sie jedem zuzwinkerten, der gerade vorbeikam.) Im Hintergrund konnte ich manchmal einen Blick auf die kleinen Zellen erhaschen, in denen sie ihre Arbeit verrichten.
Die Räume sahen weiß und steril aus, wie die Orte, an denen man sich von seinen Hämorrhoiden kurieren läßt. Vor zwanzig Jahren waren die Prostituierten allesamt Holländerinnen. Sie waren freundlich und lieb und oft herzzerreißend hübsch. Doch nun boten hier nur noch Asiatinnen oder Afrikanerinnen ihre Dienste an. Sie sahen schäbig und mißmutig aus, selbst wenn sie einen Schmollmund zogen oder so kokett und verführerisch wie möglich ihre Kußhändchen verteilten. Diese Etablissements füllten eine ganze, mehrere Häuserblocks lange Straße und breiteten sich auch über einige angrenzende Seitenstraßen aus. Ich konnte nicht glauben, daß es in Amsterdam – oder selbst in der ganzen Welt – soviele Menschen geben sollte, die solcher Hilfsmittel bedurften, nur um zu ejakulieren. Gibt es denn heutzutage keine Eigeninitiative mehr?
Den Vormittag meines letzten Tages in Amsterdam verbrachte ich im Rijksmuseum. »Die Nachtwache« war nicht ausgestellt, denn ein paar Tage zuvor hatte ein Verrückter das Gemälde mit einem Messer traktiert, so daß sich nun beide, der Verrückte und das Bild, in fachmännischer Behandlung befanden. Das Museum ist mit seinen 250 Räumen jedoch so gewaltig und mit so vielen wunderbaren Gemälden angefüllt, daß es mehr als genug anzusehen gab.
Anschließend ging ich zum Anne Frank Haus an der Prinsengracht. Es war ziemlich überlaufen, aber dennoch ergreifend. Acht Menschen haben sich drei Jahre lang in einer geheimen Wohnung über Otto Franks Gewürzladen versteckt. Heute schieben sich Tag für Tag Massen von Besuchern durch dieses Haus, um das berühmte Bücherregal zu sehen, das die Geheimtür zu den fünf Zimmern der untergetauchten Familie verbarg. Das Tragische an der Geschichte ist, daß die Franks und ihre Gefährten kurz vor der Befreiung Hollands durch die Alliierten von Unbekannten verraten und schließlich im August 1944 verhaftet worden waren. Wären sie ein paar Wochen länger unentdeckt geblieben, wären sie gerettet worden. Doch so starben sieben der acht Menschen in den Konzentrationslagern. Nur Annes Vater überlebte. Das Anne Frank Museum vermittelt hervorragend das entsetzliche Schicksal der Juden, doch leider werden die Holländer, die ihr eigenes Leben riskierten, um den Franks und anderen wie ihnen zu helfen, nicht einmal am
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