Wo Dein Herz Zu Hause Ist
hat. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich es auch gelesen habe. Es geht in dem Buch nämlich ziemlich sexy zu, und ich wollte nicht rot werden. Dr. B. hat gesagt, das Buch habe ihm gefallen, weil er sich beim Lesen ganz normal fühlen konnte, und sich bei mir bedankt. Das verstehe ich. Das habe ich ihm auch gesagt, aber er hat nur gelacht und gesagt, ich könnte unmöglich verstehen, wie es sich anfühlt, ein Paria zu sein. Darauf konnte ich nichts sagen, weil ich noch nicht wusste, was ein Paria ist, mal ganz abgesehen davon, wie man es schreibt. Später habe ich im Lexikon nachgesehen, und jetzt, wo ich weiß, was es heißt, weiß ich auch, dass er nicht recht hat. Kann sein, dass er Männer mag, aber das weiß niemand außer ihm und mir, aber jeder weiß, dass in unserem Haus geprügelt wird, jeder weiß, dass meine Mam immer seltsamer wird und dabei draufgeht, und dass mein Stiefvater Alkoholiker ist, und jeder denkt, er wüsste genau, was das bedeutet, aber sie haben allesamt keine Ahnung. Ich höre sie hinter meinem Rücken reden und flüstern und tratschen. Ich bekomme das alles mit, und bloß weil ich ein Teenager bin, bedeutet das noch lange nicht, dass es mir nichts ausmacht. Ich sehe die Person vor mir, die ich sein will, und die Welt, in der ich leben möchte, aber das alles ist unerreichbar für mich. Ich bin ein dummes Kind, auf das man nicht achten muss und auf dem man herumtrampeln kann. Wenn also irgendwer weiß, was ein Außenseiter ist, dann bin ich wohl diejenige.
Beim nächsten Verbandswechsel habe ich ihm gesagt, dass ich jetzt weiß, was Paria bedeutet, und ihm erklärt, wieso ich recht habe und er nicht. Zuerst hat er gelacht, aber dann wurde er traurig. Er sagte, mein Ärger und meine Wut hätten mit dem Erwachsenwerden zu tun, aber er müsste mit seinem Problem bis in alle Ewigkeit klarkommen. Das könnte
von Father Ryan stammen – ich höre ihn direkt reden. Was für ein verdammter Quatsch! Das habe ich Dr. B. auch gesagt. Er denkt, die Kirche wüsste, worüber sie redet, und vielleicht hat er recht, vielleicht aber auch nicht. Ich habe ihn gefragt, ob er sich schon mal überlegt hat, dass sich Kirchenleute auch irren können, und er hatte nicht!
Dann habe ich ihm erzählt, dass der Bruder meines Dads (das schwarze Schaf in der Familie, über das keiner redet) mir mal gesagt hat, dass es nur eine einzige Regel gibt, an die man sich halten muss: Behandle die anderen so, wie du selbst behandelt werden möchtest. Das war an Silvester, und er war betrunken, aber ich fand das sehr einleuchtend. Er meinte, alles andere könnte ich vergessen. Ich glaube, er hatte recht. Man ist, wer man ist, und solange man anständig bleibt und die Leute gut behandelt, ist man ja wohl salonfähig und verdient alles, was der Himmel anzubieten hat, oder etwa nicht? Dr. B. hat nicht mehr viel gesagt, nachdem ich meinen betrunkenen Onkel von der Silvesterfeier erwähnt hatte, aber er hat wiederholt, dass er froh ist, mich kennengelernt zu haben. Das war nett. Es hat ihn anscheinend überrascht, dass ich mit niemandem über ihn gesprochen habe. Aber das ist doch klar, er ist mein Freund. Noch dazu hat er sich wirklich toll um meine Finger gekümmert.
Father Ryan benimmt sich komisch. Er versucht ständig, mit mir zu reden, und fragt mich, wie es zu Hause läuft. Scheiße, habe ich ihm gesagt. Na ja, ich habe nicht direkt Scheiße gesagt, aber ich habe ihm erzählt, dass meine Mam immer verrückter wird und
er
jeden Tag rumwütet. Er hat mich gefragt, was ich damit meine, als hätte ich in einer Fremdsprache geredet. «Was meinen SIE damit?», habe ich zurückgefragt. Ich schwör’s. Das war ganz schön frech, aber was erwartet er, wenn er seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten
steckt und dabei keine Ahnung hat? Wohnt er etwa mit jemandem zusammen, der ihn jeden Tag die Woche anbrüllt und misshandelt? Hat er jemals mit so einem verschwollenen Gesicht im Krankenhaus gelegen, dass er nicht mehr sprechen konnte? Hat er je seine Zimmertür abschließen müssen und gebetet und gebetet, dass er nicht angegriffen würde? Father Ryan hat keinen Schimmer, und trotzdem kommt er zu uns nach Hause und predigt Gottes Wort. Und das ist der gleiche Gott, der mit Huren und Dieben rumgehangen hat und sie mochte, weil er schließlich auch ein Mensch war und sich mit ihnen vermutlich besser amüsieren konnte als mit den frömmlerischen Scheißkerlen, die ihn schließlich umgebracht haben. Father Ryan gefällt es
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