Wo der Elch begraben liegt
entstandenen Frostrisse gingen langsam wieder zurück. Öldurchtränkte Steine, die sich in Frost und Kälte von der Oberfläche abgespalten hatten, legten sich wieder auf den Untergrund und kamen in Kontakt mit den alten Schichten. Staub und Kies wirbelten in die Frostrisse, gingen eine Verbindung mit dem Teer ein, und neue, noch unbekannte Materialien entstanden.
Gunnel saß auf ihrem Stein. In der warmen Luft hatte sie ihren Steppmantel nicht zugeknöpft. Auf ihrem Schoß lag der Notizblock, neben ihr stand die Thermoskanne. Sie saß völlig still und hatte den Blick auf einen etwa fünfzig Meterentfernten Punkt fokussiert. Sie wagte kaum zu atmen.
Am Straßenrand wurde der Motor eines roten Wagens abgestellt. Eine Frau in mittleren Jahren öffnete vorsichtig die Tür, stieg zögernd aus und ging mit langsamen Schritten auf den Stein zu.
Frida und Annika hatten Hühnchen mit rotem Curry gegessen, Zitronenwasser getrunken und sich über die Gewichtung der Nachrichten in den Abendzeitungen unterhalten. Annika hatte für beide Kaffee vom Büfett geholt, und als sie die Tassen auf der hellgelben Tischdecke abstellen wollte, zitterten ihre Hände so stark, dass sie den Kaffee der einen Tasse verschüttete.
» Geht es dir nicht gut?«, fragte Frida.
» Ich hab bloß schlecht geschlafen«, erwiderte Annika und versuchte zu lächeln, doch das Zittern ihres Kinns war nicht zu missdeuten.
» Du siehst traurig aus.«
Annika holte Servietten und versuchte so gut es ging, den verschütteten Kaffee aufzuwischen. Frida stand auf und holte eine neue Tasse Kaffee. Dann saßen die beiden wieder am Tisch, neben der perlenden Wasserfontäne mit Meerjungfrau und Plastiklianen.
» Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll«, sagte Annika und legte die Hände vors Gesicht.
» Womit?«
» Mit… allem. Ich habe das Gefühl, dass nichts so geworden ist, wie ich es mir gedacht habe.«
Frida wartete, doch es kam keine weitere Erklärung.
» Ist etwas passiert?«, fragte sie behutsam.
» Nein, nein. Im Gegenteil. Eher nicht passiert.«
» Ich verstehe nicht. Ich habe zwar gemerkt, dass du traurig und etwas… ja, ärgerlich bist. Aber weshalb?«
» Da ist so viel«, erwiderte Annika seufzend und sank förmlich in sich zusammen.
» Dann mach doch mal eine Einleitung für den Artikel«, sagte Frida und hoffte, dass Annika ihr den kleinen Scherz nicht übel nahm.
Annika fing an zu lachen und schniefte. »Du bist ja lustig«, sagte sie und schnäuzte sich. » Da ich redigiere, bin ich besser mit Überschriften als mit Einleitungen, aber das gäbe dann eine lange Überschrift.«
» Das ist der neue Trend. Vielleicht sind superlange Überschriften bald total in.«
Annika schwieg. Frida wurde unsicher. Sie kannten sich ja eigentlich kaum.
» Du musst nichts erzählen, wenn du nicht willst. Wir können auch über was anderes reden.«
» Das hab ich schon die ganzen Jahre gemacht. Vielleicht geht es mir ja deswegen so«, erwiderte Annika.
» Wie wär’s mit Stichwörtern?«
» Stichwörter? Tja. Dann würde es ungefähr so klingen: Junge Frau aus Eksjö träumte von großen Herausforderungen, einem interessanten Job und davon, die Welt zu sehen. Wurde von Traummann geweckt, verliebte sich, heiratete, bekam einen festen Job bei der lokalen Zeitung, kaufte ein Haus und dachte, das Leben sei fantastisch. Die Welt konnte warten. Sie lief ja nicht weg. Dann kamen schnell nacheinander vier Kinder. Sie: entweder im Mutterschutz oder mit kranken Kindern zu Hause. Er: Karriere im Job, Gehaltserhöhung, trifft andere Menschen, legt sich Hobbys zu. Sie: reduziert die Arbeitszeit, um alles zu schaffen; bekommt keine interessanten Arbeitsaufgaben mehr, weil sie nur noch halbtags arbeitet; bleibt hinter der Lohnentwicklung zurück; versucht weiterzukämpfen; scheitert; wird krankgeschrieben; zieht sich zurück. Er: seiner nörgeligen, unzufriedenen Frau überdrüssig; betrügt sie mit junger Frau aus der Anzeigenabteilung. Sie: verzeiht ihm, aber nichts wird besser. Jetzt: Sie überlegt, den ganzen Mist hinter sich zu lassen. Die Frage ist nur: Wo soll sie hin…?«
Annikas Stimme versagte. Sie blickte im Restaurant umher und versuchte vergeblich, die aufkommenden Tränen fortzublinzeln.
Frida wusste nichts zu erwidern und reichte Annika unbeholfen eine Serviette. Doch das konnte die Tränen nicht stoppen. Im Gegenteil. Sie hörte, wie Annika versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken.
» Du willst doch nicht wirklich alles hinter dir
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