Wo der Elch begraben liegt
als Justiziarin in Stockholm und hatte eine aussichtsreiche Karriere dem Familienleben vorgezogen. Cillas großer Bruder war zugelassener Wirtschaftsprüfer und laut Cilla der Welt langweiligster Fünfunddreißigjähriger. Anders dachten da Klas und Anita, die überaus stolz auf ihren Sohn waren, der bereits mit der Assistentin des Leiters der Finanzabteilung verheiratet war und mit ihr das erste Kind erwartete. Cilla war erst fünfundzwanzig, hatte aber ihre Eltern schon schwer enttäuscht, weil sie erfolglos Filmwissenschaft und Psychologie studiert sowie als Skilehrerin in Chamonix gejobbt hatte, von dort mit eingegipstem Bein zurückgekommen war, sich als Serviererin und Go-Go-Tänzerin auf Ibiza verdingt, Schmuck im Hafen von Smögen verkauft und ein bisschen als Model für den Ellos-Versand herumgepfuscht hatte. Nichts, was Klas’ und Anitas Freunde im eleganten Vorort Askim beeindruckte. Journalistin war sicher kein Beruf, mit dem man sich brüsten konnte, aber weitaus besser als nichts. Die Eltern hofften, dass Cilla die Ausbildung erfolgreich absolvieren und dann zumindest auf eigenen Beinen stehen würde.
Der Duft des Glühweins wehte Frida entgegen, als Cilla die Tür öffnete und sie hereinwinkte. Sie hatte ihr langes dunkles Haar zu einem einfachen Knoten aufgesteckt. Mit ihren feinen Gesichtszügen, den braunen Augen und den fast puppenhaft geformten Lippen brauchte Cilla so gut wie keine Schminke. Sie war eigentlich immer hübsch. Eine dünne Bluse mit Leopardenmuster und eine enge Jeans ließen sie unwiderstehlich aussehen. Wie sie das bloß immer machte?
Cilla umarmte Frida und gab ihr einen Becher Glühwein. »Trink! Das Einzige, was hilft«, sagte sie und setzte sich an den kleinen Klapptisch am Fenster, der mit Nüssen und Pfefferkuchen bedeckt war.
Frida holte tief Luft und trank den halben Becher in einem Zug aus.
In dem dunklen Restaurant war es warm und laut. Aus den Lautsprechern tönten unentwegt Weihnachtslieder: » Feliz Navidad«, » Do they know it’s Christmas?« und das gute alte » Tänd ett ljus« der Popgruppe Trias. Das Fest war in vollem Gange, und die meisten Gäste drehten ihre zweite Runde um das italienische Büfett. Bald würde das Servicepersonal Kaffee, Cognac und die kleinen Portionsschalen mit Schokoladenmousse auftischen, und danach sollte die Band loslegen. Niemand hatte sich um den Aushang mit der Tischordnung geschert, der in der Ecke der Garderobe an der Wand befestigt worden war. Am letzten Abend des Semesters wollten offenbar alle selbst bestimmen, wo sie sich hinsetzten.
Peter, Torkel und Örjan Berg hockten zusammen und unterhielten sich intensiv über die Auswertung von Nachrichten. Frida und Cilla waren bei Janne Ahlsén und einigen Studenten aus der Parallelklasse gelandet, darunter ein Mädchen namens Enya, das nach dem Essen gerne » Alla vill till himlen« von Timbuktu a cappella vortragen wollte. Frida und Cilla hatten sich vielsagende Blicke zugeworfen und gelacht. Enya war offenbar nicht ganz bei Trost. Auf dem letzten Fest hatte sie Povel Ramles » Jag diggar dig« nicht nur ein, sondern zwei Mal zum Besten gegeben. Die anderen aus der Klasse hatten nicht gewusst, ob sie lachen oder weinen sollten, doch Enya hatte alle Gefühlsaufwallungen als Beweis dafür genommen, dass man ihre Initiative schätzte. Vermutlich eine äußerst nützliche Eigenschaft in einem rauen Gewerbe.
Janne redete weiterhin davon, wie vorteilhaft ein Praktikum bei einer ländlichen Zeitung sein könnte. Er selbst hatte als junger Mann bei Hallands Nyheter gejobbt, und je betrunkener er wurde, desto mehr Geschichten fielen ihm plötzlich wieder ein. Cilla hörte zu, lachte und nahm kräftige Schlucke vom Wein. Als sie ihn bat, seine Paradegeschichte vom Tschernobyl-Unglück 1986 zu erzählen, gab Frida auf und ging zur Bar. Sie hatte schon mehrfach gehört, wie er die Maschinen gestoppt hatte, als bekannt geworden war, dass rekordverdächtige Mengen an Radioaktivität im Getreide der landwirtschaftlichen Betriebe nördlich von Halmstad gemessen worden waren.
Obwohl sie deutlich spürte, dass sie nichts mehr trinken sollte, bestellte sie noch ein Glas Rotwein. Während sie darauf wartete, dass der Barkeeper saubere Gläser holte, sah sie, wie Torkel von seinem Platz neben Peter aufstand. Sobald sie ihr Glas bekäme, würde sie hingehen. Sie hatten den ganzen Abend getrennt voneinander gesessen, und somit konnte Peter jetzt auch nicht denken, dass sie aufdringlich war. Sie
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