Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
zu tun gedachte, unmöglich aussehen. Bevor er wieder aus dem Haus ging, telefonierte er von der kleinen Rezeption seiner Hotelpension. Am Ausgang prüfte er noch den Inhalt seiner Jackentaschen, dann trat er in die Gasse.
Weit zu gehen hatte Manfred nicht, denn das Ziel seiner Füße unterschied sich nicht von dem tagelangen Objekt seiner Beobachtung. Von Via Antonio Gramsci Nummer 16 zur Via Antonio Gramsci Nummer 19, also einen kurzen Gang nach schräg gegenüber, zählte Manfred dreizehn Schritte. Warum er die Schritte zählte, wusste er nicht, stattdessen wunderte er sich, dass er sich das fragte.
Klaus Wilkens war erst vor kurzem aus dem Restaurant zurückgekommen. Dorthin wird ihn kaum der Appetit getrieben haben, sondern lediglich seine Verabredung mit dem Buchhändler, vermutete Manfred und klingelte. Er klingelte sogleich mit festen Druck auf die Klingel ein zweites Mal; das Verkehrteste wäre es jetzt, schüchtern zu wirken, dachte Manfred. Geradlinig wollte er auftreten. Geradlinig und selbstverständlich.
Die Tür öffnete sich, der Hausherr stand vor ihm.
„Guten Abend, Herr Wilkens. Meine Name ist Ephraim Koshe. Ich komme von der Annemarie-Deffgens-Stiftung. Sie dürfen das Plakat, das Sie vorhin mitgenommen haben, behalten. Ich möchte mit Ihnen sprechen.“
Er zeigte einen Ausweis, der ihn mit einem Lichtbild als Mitglied einer Stiftung zeigte, die in den letzten Jahren durch die Verfolgung von untergetauchten NS-Tätern von sich reden gemacht hatte. Für Manfreds Professor war es dank seiner Verbindungen ein Leichtes gewesen, einen Originalausweis zu besorgen.
„Wir können uns bei Ihnen oder in Ihrem Stammrestaurant unterhalten. Oder in der kleinen Bar, in der Sie Mittags immer einen Cafe trinken. Oder woanders.“
Sein Gegenüber sagte nichts, er schien durch Manfred hindurchzugucken. Zu lange, fand Manfred irgendwann.
„Aber unterhalten sollten wir uns auf jeden Fall. Ich versichere Ihnen, dass das besser für Sie ist.“
Klaus Wilkens‘ Blick neigte sich zum Boden, lange überlegen musste er nicht mehr. „Ja, das wird wohl so sein.“
Ohne weiteren Wortwechsel ging Manfred hinter Klaus Wilkens die enge Holztreppe hinauf. Es roch nach Jahrhunderten. Einen hohen Fühlwert haben diese alten Häuser, was Kuscheliges. In so einem Haus will ich mal sterben, dachte Manfred.
Im ersten Stock ging es über den kleinen Flur in das Zimmer, dessen Umrisse Manfred schon von seinem Beobachtungsposten im Hotel wahrgenommen hatte. Jede Zimmerwand präsentierte mit bis zur Decke reichenden Regalen eine Unmenge von Schrifterzeugnissen, selbst das kleine Mauerwerk zwischen den beiden zur Via Antonio Gramsci zeigenden Fenstern wurde bis auf die letzten Zentimeter für die Ablage von Lektürestoff genutzt. In der Regel standen die Bücher in zwei Reihen, oftmals ragten sie weit über die Bretter in den Raum hinein, zuweilen schienen sie kaum noch Halt zu finden und den Raum dringend um weitere Kapazitäten bitten zu wollen. Auch auf dem Boden stand ein Stapel mit Broschüren. Diese Bibliothek hier hat was von Canettis Blendung , dachte Manfred.
Die sonstigen Möbel beschränkten sich auf einen elliptischen Tisch, der in der Mitte des rechteckigen Raumes stand und einem halben Dutzend Menschen Platz bieten konnte; lediglich zwei Stühle ließen jedoch vermuten, dass es dazu nur selten kam. Klaus Wilkens holte aus einem anderen Raum eine dritte Sitzgelegenheit. Etwas zu trinken bot er nicht an.
Klaus Wilkens Lebensgefährtin Embrina Magotti, die mit dem Rücken zu den Fenstern am Tisch saß und Manfreds Ansage mitbekommen hatte, blickte bei seinem Erscheinen nur kurz auf. Verpflichtet zu einer Gesprächseröffnung sah sie sich nicht; nach Konventionen war ihr offensichtlich nicht zumute.
Bald saßen alle drei rings um den Tisch. Vor ihnen lag ausgebreitet das Plakat. Klaus Wilkens‘ und Embrina Magottis Augen verweilten bei den Zeilen. Ob sie dort lasen oder nur leer verharrten, war für Manfred nicht auszumachen.
Er empfand es nicht weiter als anstrengend, als kein Gespräch aufkommen wollte. Treffen sich zwei oder mehr Leute, um etwas zu klären, beginnen sie in der Regel mit einem Small Talk, in welcher Form auch immer. Das anfängliche Schweigen in der Via Antonio Gramsci Hausnummer 19 stellte für Manfred genau einen solchen Small Talk dar, denn jetzt zwecks Schaffung einer gelungenen Gesprächsatmosphäre übers Wetter, Urlaubsleidenschaften, Hobbies oder Unschicklichkeiten einer
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