Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
Mund. Mit einem Seil befestigte er Werner am Sitz und nahm ihm den Autoschlüssel ab. Aus dem Kofferraum holte er ein Klappfahrrad, radelte die kurze Strecke zum Bordell, um alsbald mit Werners Auto zurückzukehren. Hier stellte er Werners Auto in der Garage ab und fuhr samt gefesselten Werner in dem geliehenen Benz zu einem unauffälligen Parkplatz in der Nähe der Mintarder Autobahnbrücke.
Als Werner einen Knebel in seinem Mund spürte, wurde er wach. Nachdem Manfred ihm immer wieder aufs Neue die Machtverhältnisse darlegt hatte, wusste Werner die Situation irgendwann realistisch einzuschätzen; das Klicken einer Pistole beschleunigte seinen Lernprozess. Werner musste einen schweren Rucksack tragen, als er Manfred, gezogen von einer um seinen Hals befestigten Hundeleine, folgte.
Der Weg zum Ziel führte im Dunkeln durch unwegsames Gelände; Manfred und Werner stapften durch dichten Wald und über hügelige Wiesen, um zu einer schweren Eisentür am Anfang der Brücke zu gelangen. „Das Wohnzimmer ist nicht weit“, spottete Manfred, bevor er kurz darauf die Eisentür aufschloss, die unterhalb der Fahrbahn in den Hohlraum der Stahlbrücke führte. Über eine schmale Stahltreppe gelangten sie in den finsteren Kasten, der als Unterbau der langen Autobahnbrücke fungierte, die das Ruhrtal überquert. Eine Notbeleuchtung spendete dem einige Meter breiten und nicht einmal mannshohen Gang mattes Licht. „Katakomben der Lüfte“, kommentierte Manfred den Betongang, der sich links wie rechts mit allerhand Stahlverstrebungen zeigte. Circa zwei Meter über seinen Kopf rasten Autos und Lastkraftwagen hinweg.
*
Manfred hatte genug erfahren; fast spürte er ein Gefühl der Zufriedenheit, als er Werner, eingehüllt in eine Decke, auf dem Betonboden hier unter der Autobahn schlafen sah. Denn nun hatte Manfred seinen Frieden mit dem, was er vorhatte.
Zur Klärung seiner Absichten hatte er Werner mit der Demütigung in der vierten Schulklasse konfrontiert, ihm einiges über die todbringende Tätigkeit seines Vaters in der NS-Zeit erzählt und ihm einen Überblick gegeben, was für umfassende und weitreichende Folgen der Verlust seines Vaters für ihn und seine Mutter besaß. Werner hatte es aufs Tablett serviert bekommen, dass ohne die beiden männlichen Hauptfiguren der Familie Karbert das Leben von Manfred wesentlich besser verlaufen wäre. Und zwar in vielerlei Hinsicht. Ganz wichtig fand dabei Manfred seine Einschätzung, dass ihm eine Kindheit und Jugend unter der Obhut seines geliebten Vaters frühzeitig die Liebe zu Ilona hätte leben lassen.
Diesen Gedanken verfolgte Manfred gerade wieder einmal längere Zeit. Otto und Werner Karbert, so bemühte er zum x-ten Male in den letzten Wochen die Quintessenz seiner Überlegungen, standen beziehungsweise stehen direkt oder indirekt seinem Leben mit Ilona entgegen. Je länger Manfred darüber nachdachte, desto mehr kam er zu der Überzeugung, dass diese Einschätzung genauso ausschlaggebend für sein folgendes Handeln wäre wie die Reaktion, die Werner hier unter der Autobahnbrücke gezeigt hatte. Dass sich Manfred mittlerweile ziemlich sicher war, was Werner über die Verantwortung für den Tod seines Vaters wusste, gab ihm ein noch besseres Gefühl seinen Entschluss in die Tat umzusetzen.
Manfreds Gesicht schaute recht entspannt, als er Werner mit einem derben Fußtritt weckte.
1981 – 1985
Nach Erkenntnissen der Polizei sprang Werner Karbert am Kilometerstein 19,5 von der Mintarder Autobahnbrücke. Die 1800 Meter lange Überquerung zwischen Essen und Düsseldorf war an dieser Stelle 60 Meter hoch. Seit Eröffnung der Brücke im Jahr 1966 hatten sich 70 Menschen in die Tiefe gestürzt. Todesbrücke nannte die Bevölkerung dieses Teilstück der Autostraße. „Die Brücke vermittelt mit ihrem weiten Blick in die schöne Landschaft eine unheilvolle Faszination, die Suizidanten geradezu zum Springen verführt. Sie vermittelt die Vorstellung von einem leichten, schnellen und sicheren Tod“, konnte man unmittelbar nach Werners Tod ein Zitat des Präsidenten der „Deutschen Gesellschaft für Selbstmordverhütung“ in der Presse lesen.
Ilona hatte diese Stellungnahme nur am Rande mitbekommen; die Frage, ob die Ästhetik der hügeligen Wiesen und Wälder Werner den Sprung in die Tiefe hatte angenehmer gestaltet hatte, war nicht das gewesen, was sie wirklich interessierte. Sie hatte vorerst genug damit zu tun, was ihr die Ermittlungstätigkeit der
Weitere Kostenlose Bücher