Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
gedrückt. Klaus Wilkens las darin die Nachricht, dass im Geschäft eines Mannes namens Karl Semmler eine Versammlung von Widerstandskämpfern abgehalten worden war und dass man Hetzschriften in seiner Aktentasche gefunden hatte. Und Klaus Wilkens las dann auch, dass Karl Semmler per Standgericht erschossen wurde.
„Ich kann mich an nichts davon erinnern. Ich habe die Akte wohl nie in der Hand gehabt, fürs Tippen hatten wir ja unsere Schreibkraft.“
„Was haben Sie eigentlich dann gemacht? Etwa abgedrückt?“ Manfred hatte fast geschrien. Klaus Wilkens überlegte, was Manfred denn wohl gerade getrieben haben mag und fragte sodann: „Warum interessieren Sie sich eigentlich für diese Akte?“
Manfred hatte erfahren, was er wissen wollte und sah keinen Sinn darin das Gespräch fortzusetzen. Ohne ein Wort stand er auf und verschwand.
*
Manfred war sich im Laufe des Gesprächs in dem kleinen Verlies unter der Autobahnbrücke sicher geworden, dass Werner von der Arbeit seines Vaters als Informant für die Nazis gewusst hatte. Aber wusste Werner auch, was sein Vater in dieser Funktion genau getrieben hatte und vor allem, fragte sich Manfred, war Werner Karbert bekannt, dass Otto Karbert alias Ottokar die Ermordung seines Vaters zu verantworten hatte?
Als Manfred nun nach und nach die Intrige des Spitzels Ottokar gegen seinen Vater anhand der Akten darlegte, zeigte Werner ihm wieder einmal die kalte Schulter. Manfred gelang es nicht, an seinem Gefangenen irgendeine aussagekräftige Emotion hervorzubringen. Werner zeigte sich erstaunt; zuerst lehnte er es ab, Manfreds Erläuterungen Glauben zu schenken. Irgendwann kapitulierte er aber vor der Indizienkette, denn die Rolle des Pseudonyms Ottokar bei der Ermordung von Karl Semmler war nicht zu leugnen. In dieser Situation ließ Werner zwar ein paar unfreundliche Worte über seinen Vater fallen und bekundete sein Bedauern. Das war es aber dann. Wieder fragte sich Manfred: Was war gespielt? Was war Berechnung an Werners Aussagen?
Bedeutung bekamen diese Fragen, weil sie für Manfreds Entscheidung über sein weiteres Vorgehen von höchstem Belang waren. Manfred hatte akribisch Werners Entführung geplant und ebenso durchdacht hatte er alle Vorbereitungen für die Optionen getroffen, wie er die Verschleppung enden lassen konnte. Aber welche Option würde er letzten Endes wählen?
„Du brauchst Kaffee. Unbedingt“, sprach Manfred zu Werner und goss zwei große Becher ein. „Denn du musst mir zuhören. Und weil das eine Aufgabe ist, die dich schnell an deine Grenzen führt, muss ich dich stärken. Verdursten lassen kann ich dich immer noch.“
Was der Tod seines Vater für ihn bedeutete, erzählte Manfred so nüchtern wie möglich. Schließlich wollte er einem Menschen gegenüber, mit dem ihn nichts Gutes verband und unter dem sich auch unter sonst wie anderen Umständen nie eine Freundschaft hätte entwickeln können, nicht persönliche Regungen offenbaren. „Ich werde es dir mit möglichst wenig Nebensätzen erzählen, du gehörst schließlich zu den Menschen, die sonst schnell abschalten“, begann Manfred.
Der Abstieg war brutal, den der Tod des Vaters für die Familie Semmler zur Folge hatte. „Meine Mutter musste ihren Körper an amerikanische Soldaten verkaufen, sonst hätten wir das Hungerhalbjahr im harten Winter 46/47 nicht überlebt.“ Werner wird viel Erfahrung mit gekaufter Liebe haben, dachte Manfred, ob ihn so etwas überhaupt tangiert? „Wir hatten weder überlebende Verwandte, die uns helfen konnten, noch hatte ich ältere Geschwister, die mich im Kohlenklau einweisen konnten.“ Ein Übel kam zum anderen. „Die Flüchtlinge, die wir aufnehmen mussten, wussten es zu nutzen, dass kein Mann dem Hause vorstand. Eine tyrannische Frau aus Ostpreußen befahl meiner labilen Mutter und mir, was zu tun und zu lassen ist. Es war die Hölle im eigenen Haus.“ An anderer Stelle sagte Manfred: „Meine Mutter wurde mit dem Tod meines Vaters lange nicht fertig. Ein Werner Karbert wird sich nicht vorstellen können, dass man an dem plötzlichen Tod eines anderen Menschen fast zerbrechen kann. Sie war immer labil gewesen, nach 1945 wurde es bodenlos. Hilfe gab es nicht. Keine Medikamente für die gefangene Seele, selbst zum Saufen gab es nichts. Sie konnte nur verrecken oder überleben. Ich, ein kleiner Junge, half so gut es ging. Ich war immer bei ihr, wenn sie nicht ficken gehen musste.“ Manfred atmete tief, so langsam war es ihm schwergefallen,
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