Wo die Nacht beginnt
an. »Vielleicht hätten wir dich wirklich nicht so früh mit einer Fremden in Kontakt bringen dürfen.«
Aber dafür war es jetzt zu spät.
Die Schule der Nacht erschien hinter den Fenstern, und die bleichen Gesichter pressten sich in einem namenlosen Sternbild gegen die Scheiben.
»Die Feuchtigkeit wird ihr Kleid ruinieren, Matthew, und es ist das einzige, in dem sie präsentabel ist«, schalt uns George, der den Kopf aus der Laibung streckte. Toms Elfengesicht schielte hinter Georges Schulter hervor.
»Ich habe mich königlich amüsiert!« Kit hatte ein zweites Fenster aufgerissen, und das so energisch, dass die Scheiben klirrten. »Diese alte Vettel ist die perfekte Hexe. Ich sollte Witwe Beaton in einem meiner Stücke auftreten lassen. Hättet Ihr Euch träumen lassen, dass sie mit einer alten Glocke solche Dinge anstellen kann?«
»Niemand hat vergessen, wie Ihr bisher zu Hexen standet, Matthew«, sagte Walter. Seine Füße knirschten auf dem Kies, als er und Henry zu uns nach draußen kamen. »Sie wird reden. Weiber wie Witwe Beaton reden immer.«
»Müssen wir uns Sorgen machen, falls sie sich gegen Euch äußert, Matt?«, fragte Henry vorsichtig.
»Wir sind nichtmenschliche Kreaturen, Hal, in einer Menschenwelt. Wir dürfen niemals sorglos sein«, antwortete Matthew grimmig.
5
D ie Schule der Nacht konnte zwar bis aufs Messer über philosophische Spitzfindigkeiten streiten, aber in einem Punkt war man sich einig: Wir brauchten eine Hexe. Matthew bat George und Kit, in Oxford Erkundigungen einzuziehen und gleichzeitig nach unserem mysteriösen alchemistischen Manuskript zu suchen.
Am Donnerstag nach dem Abendessen nahmen wir unsere Plätze vor dem Kamin im großen Saal ein. Henry und Tom lasen und diskutierten über Astronomie oder Mathematik. Walter und Kit würfelten an einem langen Tisch und tauschten sich über ihre neuesten literarischen Projekte aus, jetzt redeten sie schon seit Stunden über den Doktor Faustus , der dank Witwe Beaton einen neuen Anfang bekommen hatte. Ich las laut aus Walters Ausgabe von Edmund Spensers Feenkönigin vor, um meine Sprechweise zu schulen, obwohl mich die Lektüre genauso wenig begeisterte wie fast alle elisabethanischen Romanzen.
»Ihr beginnt viel zu ungestüm, Kit. Ihr werdet Euer Publikum so verschrecken, dass es noch vor dem zweiten Akt aus dem Theater flieht«, sagte Walter zu Kit. »Auch wenn Ihr Euch noch so gebildet gebärdet, Ihr seid nicht mein Faustus, Walt«, fuhr ihm Kit in die Parade und nickte in meine Richtung. »Ihr seht doch, was aus Edmunds Fabel wurde, nachdem Ihr Euch eingemischt habt. Die Feenkönigin war eine vergnügliche Ballade über König Artus. Nun ist es eine unglückselige Mischung aus Malorys Arthur-Saga und Vergil, sie windet sich endlos dahin, und Elisabeth alias Gloriana – also bitte –, die Königin ist fast so alt wie Witwe Beaton und genauso schrullig. Es würde mich wundern, wenn Spenser das Stück jemals fertigstellen sollte, nachdem Ihr ihm ständig erklärt, was er zu tun hat. Wenn Ihr auf der Bühne verewigt werden wollt, dann sprecht mit Will. Der ist glücklich über jede neue Idee.«
»Ist Euch das so genehm, Matthew?«, bohrte George nach. Er hatte uns gerade seine Suche nach dem Manuskript geschildert, das eines Tages als Ashmole 782 bekannt werden würde.
»Verzeiht, George. Was habt Ihr gesagt?« Matthews graue Augen flackerten schuldbewusst auf. Ich wusste, wie sich mentales Multitasking zeigt. Schließlich hatte ich damit zahllose Fakultätskonferenzen überstanden. Wahrscheinlich folgte er zum Teil den Gesprächen im Raum, analysierte gleichzeitig, was mit Witwe Beaton falsch gelaufen war, und war in Gedanken ansonsten bei dem Inhalt der Postsäcke, die fortwährend eintrudelten.
»Keiner der Buchhändler hat etwas von einem seltenen alchemistischen Werk gehört, das in der Stadt zirkuliert. Ich fragte einen Freund am Christ Church, doch der wusste ebenfalls von nichts. Soll ich weiter Erkundigungen einziehen?«
Matthew klappte den Mund auf, um ihm zu antworten, aber in diesem Moment flog mit einem lauten Krachen die Haustür in der Eingangshalle auf. Augenblicklich war er auf den Beinen. Walter und Henry sprangen ebenfalls auf und griffen nach ihren Dolchen, die sie inzwischen Tag und Nacht trugen.
»Matthew?«, dröhnte eine unbekannte Stimme mit einem Timbre, bei dem sich die Haare an meinen Armen aufstellten. Es war zu klar und zu musikalisch, um von einem Menschen zu stammen. »Bist du hier,
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