Wo die Nelkenbaeume bluehen
ohnehin nie wieder antreten würde.
Als Nächstes hatte sie ihren Flug gebucht und einen entfernten Bekannten angerufen, von dem sie wusste, dass er schon längere Zeit in ihrem Viertel eine bezahlbare Bleibe suchte. Er war erstaunt, aber erfreut über ihr Angebot gewesen, ihre Wohnung möbliert, zunächst einmal für die nächsten drei Monate mit der Option auf Verlängerung, übernehmen zu können.
Sie erreichte das Hotel, zahlte die Fahrt und stieg aus dem Wagen. Dann blieb sie noch einen Moment lang draußen auf dem Bürgersteig stehen und ließ den Blick schweifen.
Es war ruhig geworden. Aus einigen der offen stehenden Fenstern in der Umgebung drangen noch vereinzelt Gesprächsfetzen, irgendwo dröhnte ein Radio, doch der große Lärm des Tages war versiegt wie eine ausgetrocknete Quelle. Die schwüle, drückende Hitze indes war geblieben.
Kannst du dir vorstellen, hier zu leben? fragte sie sich selbst. Ihr Verstand zweifelte, doch ihr Herz sagte Ja. Aber auf welche Stimme sollte sie hören? Auf die der Vernunft oder die ihres Herzens?
Lena straffte die Schultern und betrat das Hotel. Sie war froh, dass Suleiman gerade nicht hinter seinem Schalter saß. Ihr stand der Sinn jetzt nicht nach langen Berichten. Morgen würde sie ihn auf den neuesten Stand bringen. Jetzt wollte sie nur noch nach oben auf ihr Zimmer.
Sie war nicht wenig überrascht, den schwarz-weißen Kater auf ihrem Kopfkissen dösend vorzufinden. Das Tier streckte sich gähnend, als es Lena bemerkte, sprang vom Bett und strich ihr schnurrend um die Beine.
„Hey, Krümel“, sagte sie, bückte sich und nahm den Kater hoch, der sofort den Kopf reckte und ihn an Lenas Kinn schmiegte.
Lena lachte und setzte das Tier, nachdem sie ihre Bettdecke zurückgeschlagen hatte, auf dem Polstersessel neben dem Fenster ab. „Hier kannst du schlafen, wenn du willst“, sagte sie. „Das Bett gehört mir, verstanden?“
Der Kater stieß ein kehliges Gurren aus, dann rollte er sich auf der Sitzfläche des Sessels zusammen und schlief sofort wieder ein.
Lena, die nicht glaubte, dass sie so bald auch nur ein Auge zubekommen würde, holte Andys Aufzeichnungen und Recherchen aus ihrer Handtasche und setzte sich so, dass ihr Rücken am Kopfteil des Betts lehnte. Dann öffnete sie die Mappe und zog die Farbkopie eines stark vergilbten Blatts Papier daraus hervor, die ganz zuoberst lag.
Es handelte sich um die Kopie eines Briefes. Das Original war schon über einhundert Jahre alt; an den Falzstellen war das Papier inzwischen so dünn, dass man hindurchsehen konnte, wenn man es gegen das Licht hielt. Daher lag der Brief, wie alle anderen Originalunterlagen, die Andy für seine Recherchen zusammengetragen hatte, in ihrem gemeinsamen Schließfach bei der Bank.
Lena hatte den Brief schon viele Male gelesen, doch jedes Mal, wenn sie es tat, fühlte sie sich der Person, die diese Zeilen verfasst hatte, ein Stück näher.
Liebes Irenchen ,
nun sind wir endlich auf Sansibar angekommen, und es ist vollkommen anders, als ich es mir vorgestellt habe. Als wir im Hafen von Bord der Fortuna gingen, um uns von Henriette zu verabschieden, war es, als würden wir eine andere Welt betreten …
3. KAPITEL
Mji Mkongwe, Sansibar, Juli 1887
Vom Minarett der Moschee aus rief der Muezzin mit seinem Gesang die Gläubigen zum Gebet. Es war ein Laut, wie Annemarie Derksen ihn in ihrem achtzehnjährigen Leben noch nie zuvor vernommen hatte. Doch dies war bei Weitem nicht der einzig neue Eindruck, der sich ihr dargeboten hatte, seit sie vor etwas mehr als einer halben Stunde mit ihren beiden Reisegefährtinnen von Bord der Fortuna gegangen war, um sich von Henriette zu verabschieden, für die die Reise von hieraus noch weitergehen sollte.
„Annemie, Celia, schaut!“, rief diese nun und deutete aufgeregt auf einen von Eseln gezogenen Karren, dessen Pritsche voll beladen war mit gewaltigen Elefantenstoßzähnen, deren Oberfläche wie Perlen in der Sonne schimmerte.
Mit ihren siebzehn Jahren war Henriette Lüderitz die jüngste in ihrem Dreierbund, besaß jedoch ungleich mehr praktische Lebenserfahrung als ihre beiden Gefährtinnen. Sie hatte bereits mehrere Jahre als Kindermädchen für eine angesehene Lübecker Tuchhändlerfamilie gearbeitet, als sie der Ruf ihres Vaters aus Afrika ereilte. Pastor Johannes Lüderitz, der es als sein Lebenswerk betrachtete, Heidenkinder zum Christentum zu bekehren, war in der Fremde erkrankt. Um ihn zu pflegen hatte Henriette ihre Anstellung
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