Wo die Toten ruhen - Psychothriller
Aus einer kleinen Kammer holte er einen Baseballschläger hervor, bevor er die Wendeltreppe hinaufeilte. Er wollte nicht an die Tür gehen, doch dann würden sie womöglich denken, dass niemand zu Hause sei, und versuchen einzubrechen. Hartnäckig läutete es ein zweites Mal.
Ohne Licht zu machen, schlich er zur Haustür. Er spähte hinaus und sperrte auf.
Herein stürmte James Hubbel, Leighs Vater. Er musste direkt von der Arbeit gekommen sein, denn er trug seine dunkelblaue Polizeiuniform und wirkte müde. »Leg den Schläger weg«, befahl Hubbel.
Ray legte ihn weg. »Es ist spät.«
»Ich sehe, dass du auch nicht schlafen kannst«, sagte Hubbel. »Glaubst du, ihre Mutter und ich schlafen? Glaubst du das?«
»Was ist denn los, Jim?«
»Wo ist meine Tochter?«
»Nicht zu Hause.«
»Das ist wohl nicht der richtige Zeitpunkt, um Spielchen zu spielen, Ray.«
»Sag mir nicht, was ich zu tun habe.«
»Ich bin nicht hier, weil ich Pfannkuchen statt Eier zum Frühstück möchte!«, schrie Hubbel. »Ich bin nicht hier, um mich zu wundern, warum ich noch keine Enkel habe!«
Ray war froh, dass er noch angezogen war. Äußerst ungern würde er dem eins neunzig großen Ex-Marine mit Augenbrauen so dicht wie wucherndes Gras in Unterwäsche gegenüberstehen. Leigh liebte ihren Vater und nannte ihn einen harten Kerl mit dem Herz am rechten Fleck.
Hubbel, im Augenblick wohl mehr Schläger als Herz, schob sich an Ray vorbei und sah sich um. Das Wohnzimmer, ruhig, kahl, in genauestens aufeinander abgestimmten Beigetönen, war leer und still. Er trat an den offenen Kamin aus weißem Granit und zog den LCD-Bildschirm zur Seite.
»Keine Spur von ihr da drin«, sagte Ray. Er wusste, dass er das nicht zu Leighs Vater sagen sollte, und doch konnte er nicht anders. Er fühlte sich schrecklich in der Defensive.
»Ich gehe nach oben«, verkündete Hubbel. Er stieg die Haupttreppe hinauf, die frei tragenden Betonstufen, die nach oben zu schweben schienen, in den ersten Stock. Ray hörte ihn oben herummarschieren, Türen und Schubladen öffnen und wieder zuknallen. Er setzte sich auf die Couch und starrte dumpf in den offenen Kamin. Die vorhanglosen Fenster kamen ihm vor wie schwarze Löcher, die sein Innerstes aus ihm heraussaugten.
Ich habe einen Zusammenbruch, dachte er, konnte sich aber kaum darüber aufregen.
Wenige Augenblicke später kam Hubbel wieder herunter, die langen Arme schlenkerten hin und her. »Verdammt gefährlich, die Treppe hier. Hast du ein Problem mit Geländern?«
»Sie sind hässlich.«
»Pah, ich hasse diesen ganzen Ästhetik-vor-Funktion-Scheiß.« Er war im Flur angekommen und stand ganz nah vor Ray, der sich bereits erhoben und die Haustür geöffnet hatte.
»Zufrieden?«, fragte Ray.
»Machst du Witze? Wo ist meine Tochter?«
»Sie hat euch nicht angerufen?«
»Nicht seit Freitag. Ihre Mutter ist außer sich. Sie waren am Samstag zu einem Einkaufsbummel verabredet. Hörst du die Nachrichten auf deinem Anrufbeantworter denn nicht ab? Habt ihr zwei euch gestritten?«
Die unliebsame Erinnerung an Leighs letzte Nacht zu Hause holte Ray wieder ein. »Streit, ja. Schau, ich weiß nicht, wo sie ist, okay? Sie ist weg.«
»Sie ist weg? Wann? Mit ihrem Auto?«
Ray beantwortete die Frage. Hubbel ließ nicht zu, dass er den Blick senkte oder abwandte. »Ja, sie hat ihre Handtasche genommen, eine Tasche gepackt und ist mit dem Auto weggefahren. Nein, sie hat nicht gesagt, wohin sie will … sie war sehr … ich dachte, sie würde zurückkommen, wollte sich nur den Wind um die Nase wehen lassen. Keine Anrufe. Nein, keine Anrufe, keine E-Mails, keine Nachrichten.«
»Warum ruft sie uns nicht an?«, fragte Hubbel laut denkend. »Sie weiß … sie weiß doch …«
»Es ist nur das Wochenende. Ich bin mir sicher, morgen hören wir was von ihr. Komm schon, Jim, sie ist erwachsen, und es ist wirklich spät, und ich muss morgen früh arbeiten.«
»Du hättest uns Bescheid sagen sollen. Ich habe in meinem Beruf Dinge gesehen, über die ich nicht mal sprechen kann, Ray. Hast du gehört? Ich lasse nicht zu, dass Menschen, die ich liebe, tagelang vom Radarschirm verschwinden. Ich werde einige Leute anrufen, ein paar Krankenhäuser.«
»Wenn du mit ihr sprichst, dann sag ihr …«
»Sag ihr was?«
»Sie soll sich melden.«
»Das klingt gar nicht gut. Du sagst das so lahm, das gefällt mir nicht, als hättest du die Hoffnung schon aufgegeben, sie je wiederzusehen. Wenn sie zurückkommt oder sich meldet, dann
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