Wo die Toten ruhen - Psychothriller
sie noch einmal in die Rolle der älteren, klügeren Persönlichkeit schlüpfte.
»Es rufen Kunden an, die wissen wollen, wie die Arbeit läuft. Ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll.«
»Sagen Sie ihnen, es werde alles erledigt. Es gebe eine kleine, sehr kleine Verzögerung. Und Sie bekommen Ihren Scheck bald, keine Sorge.«
Erleichterter Seufzer. »Okay.«
»Kennen Sie Leighs Mann?«
»Kaum.« Eine Pause. »Manchmal prahlt sie mit ihm, wie erfolgreich er ist und wie klug. Aber sie bringt genauso viel Geld rein wie er. Manchmal sogar mehr.«
»Wirklich?«
»Sie ist nicht so berühmt wie er. In seiner Welt ist sie ein Niemand, aber sie hat hier in der Gegend einen ausgezeichneten Ruf. Die Leute lieben ihre Möbel. Diese Stadt weiß Qualität zu schätzen. Sie würden nicht glauben, wer alles zu ihren Kunden zählt. Filmstars, Regisseure, Produzenten …«
»Wo kann sie nur sein?«
»Wenn Sie mit ihr sprechen, sagen Sie ihr bitte, Ashley dreht durch. Ich meine, natürlich hoffe ich, dass es ihr gut geht, aber ich kann diesen Laden einfach nicht allein führen, und ich kann auch nicht umsonst arbeiten.«
Ray arbeitete bei Wiltshire Associates, einem Architekturbüro, in einem Raum, den er möglichst frei von technischer Ausstattung hielt. Bis auf einen Laptop und einen großen Flachbildschirm, den er anschloss, wenn er ihn brauchte, arbeitete er die meiste Zeit an einem nach Norden ausgerichteten Zeichentisch vor den hohen glänzenden Glasfenstern, durch die man über ganz West L. A. sehen konnte, und zeichnete mit der freien Hand mit weichen, leicht schmierenden Kohlestiften. Das Büro im vierten Stock eines Gebäudes am Boulevard wies eine durchgehende Fensterfront auf, die über fast zwei Etagen reichte. Er und Martin Horner, als Gründer und Leiter der Firma, genossen die Aussicht. Sämtliche Mitarbeiter hockten in den Büros auf der dunkleren Rückseite des Flurs, die, gemäß dem noblen Image, das die Firma so gerne kultivierte, zwar ebenfalls Fenster hatten, nur eben viel kleinere.
Heute zeichnete er an seiner schräg nach vorn geneigten Arbeitsplatte an der Antoniou-Villa. Der Abgabetermin für die ersten Entwürfe war schon in drei Tagen, am Donnerstag. Achilles Antoniou, Restaurantbesitzer und ursprünglich aus Athen, bildete sich ein, Ray entwerfe den Parthenon neu zugeschnitten
für seine Acht-Schlafzimmer-Villa in Laguna Cliffs. Ray hatte mit einer beträchtlichen Anzahl dorischer Säulen begonnen, um ihn zufrieden zu stellen, doch an diesem Morgen hatte er diese ersten Entwürfe verworfen und mit einem phänomenal modernen Bau angefangen, der Antoniou das bieten würde, worauf er eigentlich hinauswollte: gesellschaftliches Ansehen. Ray war sich sicher, dass er ihn zu dieser neuen Idee überreden konnte.
Bislang hatte er noch nie die - wenn auch vagen - Wünsche eines Kunden ignoriert, im Gegenteil, er hatte die Vorstellungen aus ihnen herausgelockt und ihnen Gestalt verliehen.
Heute fühlte er sich dazu nicht in der Lage. Alles andere in seinem Leben war den Bach hinuntergegangen. Er wollte nicht, dass es mit diesem Projekt genauso verlief. Antoniou würde kriegen, was er brauchte, und nicht, was er glaubte zu brauchen. Und Ray ebenfalls.
Die Mitarbeiter wussten, dass man ihn besser nicht störte, wenn er zeichnete, und Suzanne fing seine Anrufe ab, sodass er den größten Teil des Vormittags allein war. Um Viertel vor eins legte er den Stift weg. Er würde sich einen Imbiss aus dem Automaten ziehen und dann verschwinden. Er warf einen Blick auf den Gang. Niemand. Gut.
Zu spät bemerkte er Martin, und Martin bemerkte ihn.
»Einen Augenblick, Ray. Ich muss mit dir reden. Ich bin in einer Minute bei dir.«
Ray brummte und setzte sich auf einen Stuhl an den mit Papieren überhäuften Tisch. Inzwischen tat Martin das, was er, dem erschöpften Ausdruck des Kunden nach zu urteilen, schon eine ganze Weile tat: Von der hinteren Ecke des Raumes aus, wo hohe Fenster eine eindrucksvolle Aussicht boten und ein üppiger Kängurudorn wucherte, ließ er seinen Charme spielen. »Wir kreieren Ihnen eine Vision, etwas Unvergleichliches, was
nur Ihnen gehört, etwas, das sagt: Hey, ich habe es gemacht, und ich habe dafür gesorgt, dass die Dinge aussehen, wie sie meiner Meinung nach aussehen sollten.«
Der potenzielle Kunde, ein Regisseur mit einer modernen dickrandigen Intellektuellenbrille und einem Bart, der immensen Reichtum und Imagebewusstsein vermitteln sollte, nickte.
»Sie wollen einen
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