Wo die Toten ruhen - Psychothriller
sich etwas aus.
Während er ein hohes Glas mit Eis füllte und ihr einschenkte, ließ Kat ihren Blick durch den großartigen Raum dahinter schweifen. Keine Spur von Leigh. Die Ausstattung deutete in nichts darauf hin, dass hier eine Frau lebte. Sie nahm das Glas, das er ihr hinhielt.
»Wann haben Sie Leigh kennen gelernt?«, fragte Ray.
»Sie wohnte auf der anderen Straßenseite in Whittier, als wir Kinder waren. Wir blieben die ganze Highschoolzeit eng befreundet
und auch noch etliche Jahre nach dem College. Leigh hatte was. Sie war eine, die unvorhersehbare Dinge sagte. Au ßerdem gab sie nicht das Geringste auf Mode, auf Trends und solchen Unsinn. Sie mochte Zeichentrickfilme, genau wie ich. Sie mochte auch Phantasieklamotten. Sie mochte mich, weil …«, sie unterbrach sich, »… vielleicht, weil meine Familie so normal war. Ich hatte eine Schwester und einen Bruder, sie hatte keins von beidem. Vielleicht war sie ein wenig einsam zwischen ihren Eltern, die sie abgöttisch liebten.«
»Sie haben in Whittier gewohnt? Wo?«
»In der Nähe der Außenbezirke, nicht weit vom Penn Park. Franklin Street. Wir hingen die ganze Zeit im Park rum, lernten, aus Plastikschnüren Lanyards zu flechten und die Jungs aufzuziehen. Leigh nannte den Hügel, zu dem alle jungen Pärchen gingen, ›Knutschhügel‹.«
Er nickte. »Ich habe mal in East Whittier gewohnt, als ich klein war, und dann später mit zwölf wieder, bis ich von der Highschool abging. Meine Mutter wohnt noch dort. Wissen Sie, dass ich Leigh im Einkaufszentrum in East Whittier kennen gelernt habe? Whitwood?«
»Bestimmt beim Eisessen.« Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, hatte Kat sich auf die weiße Couchgarnitur gesetzt, von wo aus man eine einzigartige Aussicht auf einen Hügel hatte, der allmählich mit der Dämmerung verschmolz. Ray Jackson setzte sich ihr gegenüber und trank sein eiskaltes Mineralwasser.
»Ich wohnte in einem zweistöckigen Holzhaus, nichts Besonderes«, sagte Kat. »Leigh lebte in einer riesigen spanischen Villa auf der anderen Straßenseite. Ihr Vater war Polizist.«
»Ist er immer noch.«
Über die Hubbels zu reden, brachte das Gespräch auf das gute alte Whittier, Kalifornien. Ray war auf derselben Highschool gewesen wie Kat, Leigh und Tom, doch er war drei Jahre älter als Leigh. Nun, Jacki wird zufrieden sein, dachte Kat und sah sich um. Ray Jackson hatte sich ebenfalls bemüht, aus Whittier rauszukommen. Durch diese breiten Fenster konnte er wahrscheinlich über die Hügel hinweg bis in ihre enge Wohnung in Hermosa Beach sehen.
Er schien ganz sympathisch zu sein, obwohl sein Blick nicht unbedingt freundlich zu nennen war. Er war höflich und wohl zu neugierig, um sie hinauszuwerfen, wiewohl sie spürte, dass sie diesen Besuch nicht allzu sehr ausdehnen sollte.
Leigh war nicht hier und würde an diesem Abend nicht nach Hause kommen, so viel war Kat klar. Und was den Rest betraf, das ging sie nichts an. Sie hatte allmählich den Verdacht, dass Leigh eine andere Leigh aus dem Ärmel gezogen, diesen netten Kerl verlassen hatte und mit einem anderen durchgebrannt war. Kein großes Mysterium also.
»Ich möchte Sie noch mal fragen, warum Sie heute hergekommen sind. Ich meine, es ist, wie Sie sagen, Jahre her.«
Kat brachte ihre Entschuldigung vor und erklärte die Sache mit Leighs Sekretärin, die ihren Scheck nicht bekommen hatte. »Falls Leigh ihren Laden nicht dichtmachen will, sollten Sie dieser jungen Dame ihren Lohn auszahlen.«
Er wirkte erleichtert. »Sicher, selbstverständlich. Leigh macht einen kleinen Urlaub. Sie hat es wohl vergessen.«
»Die junge Frau meinte, das sehe ihr gar nicht ähnlich.« Doch sie erinnerte sich noch daran, wie Leigh Dinge im Stich ließ. Wie sie Menschen im Stich ließ.
Es wurde zunehmend dunkler im Raum, doch er schaltete keine Lampen an. Er erkundigte sich nach ihrer Arbeit, fragte, wo sie lebte, wo sie auf dem College gewesen sei. Kat gab zu,
dass sie allein lebte und Männer übers Internet kennen lernte. Sie wusste, dass sie darüber mit zu vielen Leuten sprach; sie wusste, dass sie es tat, um kühn und selbstbewusst zu wirken.
Männer reagierten auf solch offenherzige Geständnisse oft wie Wespen, die in Scharen herbeischwärmten. Ray Jackson schob sich unmerklich näher und zog sich dann wieder zurück.
Dann hatte er also mitbekommen, wie sich die Atmosphäre verändert hatte, und war so klug, der Gefahr auszuweichen.
Sie wusste aus bitterer Erfahrung, dass erotische
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