Wo die Toten ruhen - Psychothriller
ist?«
Wenn Kat einen Therapeuten aufgesucht hätte, würde sie vielleicht nicht wieder in diesem Haus in der Franklin Street sitzen, wo Erinnerungen brannten wie Feuer. »Nein«, sagte sie. »Hat es ihr geholfen?«
»Ein wenig. Aber sie hätte eine Freundin brauchen können.«
»Jetzt rede Kat nicht noch Schuldgefühle ein, Jim«, wandte Rebecca ein.
»Ist schon gut«, murmelte Kat. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit Leigh in diesem Raum mit Puppen gespielt hatte, wie sie den bemalten Schrank in der Ecke in ein Miniaturhaus mit Vorhängen und aufgemalten Fenstern verwandelt und wie sie den Couchtisch daneben sogar in eine Veranda umfunktioniert hatten. Leighs Vater, damals ein junger Mann, hatte begeistert geholfen. Und ihre Mutter hatte für das Projekt Spielzeugmöbel gekauft.
Was würden sie denken, wenn sie die Geschichten gekannt hätten, die Leigh und sie sich erträumt hatten? In ihrer Phantasie spielten Männer nur eine Nebenrolle. Männliche Puppen waren so hässlich. Ihre Puppenwelt wurde von junonischen Frauen bevölkert, die ihre Kinder allein zur Welt brachten und aufzogen; Männer tauchten nur gelegentlich einmal auf, wenn sie gebraucht wurden.
Sie überlegte, ob diese Phantasien die Gegenwart beeinflusst hatten. Wollte sie wirklich, dass ein Mann nur kam und ging?
Hatte Leigh das gewollt?
Sie saßen nebeneinander auf den Schaukeln an dem alten Gerüst hinter Kats Haus. Fünfte Klasse. »Ich wünschte, ich hätte deine Eltern«, sagte Kat und stieß sich kräftig ab, um noch höher zu fliegen.
»Bist du verrückt?«, fragte Leigh. Ihre Beine baumelten faul durch die Luft, sie drückte sich immer nur mit einem Fuß ab. »Ich glaube schon.«
»Sie tun so viel für dich! Barbies sind teuer. Und du hast fünf Stück.«
»Nein«, hatte Leigh gesagt. »Sie kaufen mir Sachen, aber sie schenken mir viel zu viel Aufmerksamkeit. Mein Vater folgt mir und warnt mich an jeder Ecke vor dem schwarzen Mann.
Er flippt aus, wenn ich mal zehn Minuten zu spät nach Hause komme.«
»Er ist Polizist, richtig? Das ist sein Job.«
»Ihr habt so viel Spaß.«
»O ja, meine tolle Familie. Wir sind dauernd pleite. Sie fahren mit uns nach Vegas, um das Geld zum Fenster rauszuschmeißen, und dann bekommen wir keine neuen Sachen für die Schule. Sie schreien sich an.«
»Hey, wenigstens ist es nachts nicht mucksmäuschenstill, und es hocken dir auch nicht dauernd zwei Erwachsene im Nacken und wollen wissen, ob du die Hausaufgaben gemacht und dir die Zähne geputzt hast, oder warnen dich, dass zu viel Fernsehen dem Verstand schadet. Du und Tommy, ihr seht so viel fern, wie ihr wollt.«
Kat drückte sich fest ab, bis sie hoch hinaufflog und ganz außer Atem geriet. Leigh hatte ein großes Haus, einen Haufen Geld und Eltern, die immer zu Hause waren. Kat war neidisch. Leigh fiel alles in den Schoß, so leicht, dass es ihr egal war, ob sie etwas fallen ließ und es zerbrach oder es einfach unterwegs irgendwo verlor.
Leighs Eltern schauten Kat an, als hätte sie eine Lösung parat. Sie sah, wie besorgt die beiden waren, und das machte ihr wirklich Sorgen. »Ruft ihr mich an, wenn ihr von ihr hört?«, fragte Kat, stand auf und reichte Leighs Mutter an der Tür ihre Visitenkarte.
»Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Wenn es ihr gut geht … wie kann sie uns dann so leiden lassen? Weiß sie denn nicht«, sagte Rebecca und schob die Visitenkarte vorsichtig in ihre Tasche, »wie sehr wir sie lieben?«
Leighs Vater brachte Kat zu ihrem Wagen. »Du achtest doch darauf, die Autotüren zu verriegeln, wenn du unterwegs bist?«
Sie fuhr einen Block weiter, hielt an und rief Ray an. Er war noch nicht im Büro und hob auch zu Hause nicht ab. Sie rief in ihrem Büro an, wo sie zu ihrer Erleichterung Goweckis Anrufbeantworter erreichte. Sie hinterließ eine unterwürfige Nachricht, sie werde irgendwann am Nachmittag zurück sein, und fuhr zu Rays Haus in Topanga.
Bei Wiltshire Associates fand am Nachmittag das alles entscheidende Treffen mit Achilles Antoniou statt, doch Ray hatte gegen halb neun Mühe, aus dem Bett zu kommen. Um seine müden geschwollenen Augen, die Schramme in seinem Gesicht und den Verband an seiner rechten Hand, wo der Schnitt an diesem Tag heftig schmerzte, wettzumachen, kleidete er sich äußerst sorgfältig. Er überlegte, ob er eine Krawatte tragen sollte, doch er hatte Antoniou nie mit Krawatte gesehen, also entschied er sich für eine komfortable Mischung zwischen salopp und formell,
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