Wo die Toten ruhen - Psychothriller
erzählt.«
Dann wusste die Polizei von Martin und Leigh. Dann wusste sie, dass Ray sie angelogen hatte.
Ray überlegte, wie viel Zeit er wohl hatte.
»Ich muss ihr nicht kündigen«, sagte er. »Das wird Martin schon übernehmen.«
»Stimmt«, sagte Denise. »Wahrscheinlich heute noch. Und dann zeigt sie Martin wegen sexueller Belästigung oder sonst was an. Und dann geht der juristische Trubel los.«
Schweigen in der Leitung. Im Hintergrund hörte Ray Telefonläuten, dann Bruchstücke eines Gesprächs, als jemand vorbeiging. »Es tut mir so leid«, sagte er zu Denise.
»Es ist nur … Leigh geht es doch gut, oder?«
»Sie macht ein paar Tage frei, das ist alles. Sagen Sie allen, dass es mir leid tut wegen der Unannehmlichkeiten.«
»Wann sind Sie wirklich wieder da?«, fragte Denise, die sich nur um ihre eigenen Sorgen scherte.
»Sobald ich kann.«
»Noch kann ich das Treffen absagen.«
»Nein, das geht nicht. Ich werde da sein.«
Er ging die Bright Street hinauf zu dem Haus, von dem er dachte, es könnte ihres gewesen sein; auch hier war er schockiert über die Veränderungen der Zeit. In dem Block, den er als Kind mit dem Fahrrad auf und ab gefahren war, wo einst Einfamilienhäuser ihr Dasein gefristet hatten, standen jetzt neue Appartementkästen.
Noch war er ein Stück entfernt von dem Haus, von dem er dachte, es sei seines, und er näherte sich ihm Schritt für Schritt. Er erinnerte sich an den Bürgersteig, der krumm war und voller Buckel, denn die Erde Kaliforniens bewegte sich immerfort. Er wusste noch, dass er beim Rollschuhlaufen immer über die Buckel springen musste. Er kam zu dem baufälligen Cottage, freute sich, es wiederzusehen, erinnerte sich an die Horrorfilme, an seine Ängste und an den Nachbarn von nebenan, der losbrüllte, sobald er oder ein anderes Kind zufällig in seinen Silberregen stolperte.
Er hoffte, dass die Leute, die hier lebten, arbeiten waren. Schließlich war dies eine Straße in einem Arbeiterviertel. Doch eine Frau kam mit einer Tischdecke in der Hand hinaus auf die Veranda, schüttelte sie energisch aus und ging wieder hinein. Er würde warten müssen. Die Frau stand in der Küche seiner Mutter. Er ging zu seinem Auto zurück, stieg ein, kurbelte die Fenster herunter, ließ den Kopf nach hinten sinken, schloss die Augen und überließ sich seinen Erinnerungen.
Er erinnerte sich deutlich an das Haus. Der Bungalow aus den zwanziger Jahren hatte unter der Küche einen Keller, der einzige Keller, der ihm nach all den Umzügen in Erinnerung geblieben war. In den Regalen standen uralte Gelee- und sonstige Einmachgläser mit unidentifizierbarem Gemüse und Obst. Sie hatten nicht so lange dort gewohnt, dass seine Mutter ihn geputzt hätte. Die Regale waren dunkel vor Schmutz, die Gläser von Spinnweben umhüllt.
Nach einer ersten Erkundung des Kellers hatte Esmé seines Wissens die Falltür nie wieder geöffnet. Doch er wusste noch, dass sie gesagt hatte: »Dort konnten sich Menschen verstecken. Vielleicht haben sie ihn gebaut, um sich vor Einbrechern zu verstecken.«
Ray, damals elf Jahre alt, wusste, dass der Keller in der Zeit, bevor die Leute Kühlschränke hatten, hauptsächlich dazu verwendet wurde, um Lebensmittel kühl zu halten. Er hatte sich damals schon über die Paranoia seiner Mutter gewundert. Der Obstkeller, so ungewöhnlich in seiner Welt, so verborgen und unzugänglich, lockte ihn, und er hatte an heißen Tagen viele Stunden dort unten im Dunkeln verbracht, auf der feuchten Erde gelegen, gegraben und sich die Gläser und das rostige Werkzeug angesehen. Für ihn war der Keller eine Zuflucht. Doch wovor?
Ihm hatten die Monate in Whittier mit der großen Stadtbücherei mit dem Springbrunnen vor dem Eingang, in dem Kinder wie er sich an heißen Tagen abkühlen konnten, gefallen. Er liebte die altmodische Innenstadt. Wenn seine Mutter am Samstagnachmittag einkaufen ging, zahlte Ray einen lächerlich geringen Betrag, um sich im Whittier-Village-Kino in der Greenleaf Avenue Horrorfilme anzuschauen. Seine Träume wurden von Fleischfressern bevölkert, von Fledermäusen mit menschlichen Gesichtern, die auf ihn zugeflogen kamen, und giftigen, flüssigen Wesen, die durch den Türspalt sickerten. In diesem Haus war sein Schlafzimmer eine geschlossene Veranda mit Fenstern auf drei Seiten gewesen, was Monstern den perfekten Zugriff bot. Er erzählte seiner Mutter nie, wie viel Angst ihm die Filme machten und dass sie ihm nachts den Schlaf
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