Wo die Toten ruhen - Psychothriller
doch Kat war ebenso fasziniert von seiner samtigen Kopfhaut wie Jacki. Sie streckte vorsichtig die Hand aus und legte sie auf den Flaum. Seine Haut war feucht, warm und geschmeidig unter ihrer Berührung.
Ziemlich geschickt suchte das Baby Jackis Brustwarze und klammerte sich daran. »Das kann am Anfang ein wenig wehtun«, sagte die Schwester. »Natürlich härten Sie auch ab.«
»Schau, Kat. Was für ein hübsches Kind. Ist das zu glauben?«
»Seien Sie froh, dass er gesund ist, auch wenn er so klein ist«, sagte die Krankenschwester. »Eine Frau hat heute Nacht ein Baby mit Herzproblemen bekommen. Es muss operiert werden, bevor es nach Hause darf.«
Jacki drückte dem Baby zart einen Kuss auf den Kopf, als wollte sie ihm ihren Segen erteilen. »Schicken Sie ihr Blumen! Schicken Sie ihr Geld für die Collegeausbildung des Kindes!«
Raoul hielt sie und seinen Sohn, alles zusammen in einem
großen Bündel. Als Jacki schließlich einnickte, hielten Kat und Raoul das Kind, reichten es glücklich hin und her und tranken reichlich aus einer Flasche gekühlten Champagners, die Raoul irgendwo aufgetrieben hatte. Das Baby schlief in seiner Korbwiege neben dem Bett ruhig ein, als fühlte es sich in seiner neuen Umgebung schon vollkommen wohl.
»Du hast es getan«, sagte Kat. »Du hast mir einen Neffen geschenkt, Raoul. Danke.«
Er streichelte dem Jungen die Wange, der sofort herumwühlte, eine Brustwarze suchte und auf mehr hoffte. Er nuckelte am kleinen Finger seines Vaters, was ihn vorläufig beschwichtigte. »Was wäre, wenn … stell dir vor, ich müsste ihn ohne sie aufziehen. Allein.«
»Du wärst nicht allein.«
»Ich hoffe, dass das stimmt.«
»Ich habe womöglich kein Kolostrum, aber ich habe den Willen. Dem kleinen Wurm da wird kein Haar gekrümmt werden, solange ich in der Nähe bin.« Die Schärfe in ihrer Stimme war ihr beinahe peinlich.
»Ich besorge uns eine Pizza«, sagte Kat später. Sie aßen, und Raoul schlief, und Kat blieb da, während Jacki zweimal aufwachte, um ihre Medikamente zu nehmen und den Kleinen zu stillen. Die Schwestern ließen sie weitgehend in Ruhe. Die Tür wurde geschlossen, und der kleine, schlichte Raum mit seinen medizinischen Geräten und den Schlafenden kam ihnen schön vor wie das Taj Mahal.
Als Jacki gegen vier am Morgen wieder aufwachte und das Baby stillte, verabschiedete Kat sich, aber nicht, bevor Jacki nicht, wie gewohnt, das letzte Wort hatte.
»Ich wünschte, du könntest dieses Gefühl haben«, sagte sie wehmütig, »dass das Leben weitergeht und alles gut ist.«
Ich gebe zu, das ist ein Silberstreif am Horizont, dachte
Kat und drückte den Aufzugknopf, ein neues Leben, neues Glück.
Kat hatte Ray gesagt, er solle sie an diesem Abend um halb zehn von der Arbeit abholen, doch sie war nicht da. Ray verpasste sie. Er wollte mir ihr reden, er hatte durchgehalten, damit er mit ihr reden konnte.
Er schaute noch einmal auf die Uhr. Zu spät. Sie hatte ihn versetzt. Dieser Druck in seiner Brust - er hatte die Kassetten mitgebracht, um sie ihr vorzuspielen. Sie glühten förmlich auf dem Beifahrersitz. Er gab es auf, warf den Motor an und trug damit zum Verkehrslärm bei, der Tag und Nacht zu hören war.
Ray erreichte nach Einbruch der Nacht die Memory Gardens in Brea. Die großartige Anlage des Friedhofs mit ihren Rasenflächen, Gedenktafeln und Grabsteinen war unvergleichlich, egal in welchem Licht. Der Gedenkstein von Henry Jackson befand sich neben dem Krematorium. »Wie wir ihn vermissen«, lautete die einfache Inschrift, gefolgt von Geburts- und Todestag, wobei der Todestag kurz nach Rays zweitem Geburtstag lag.
Er glaubte nicht mehr an diesen Todestag. Sein Vater war später gestorben; da war er sich inzwischen ziemlich sicher.
Sie hatte seinen Vater nicht geliebt. Und endlich dämmerte ihm, warum.
Er überlegte, warum Esmé sich so viel Mühe mit diesem Gedenkstein gemacht hatte. Sie hatte Ray erzählt, seine Großtante habe die Asche seines Vaters in New York verstreut. Vielleicht hatte sie den Stein mit dem falschen Todesdatum seinetwegen aufgestellt. Sie hatte ihm vor Jahren davon erzählt, doch er konnte sich nicht erinnern, jemals mit ihr hergekommen zu sein. Ray war ein paar Mal allein hier gewesen, als die vielen Umzüge ihm arg zu schaffen gemacht hatten.
Sie hat nur versucht, mich zu schützen, dachte er, aber ich bin jetzt erwachsen. Diese Lügen sind auch eine Art Gift.
Er legte einen Strauß Tulpen neben den Gedenkstein, denn es gab
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