Wo die Toten ruhen - Psychothriller
einen Arm um die Hüften.
Die anderen Frauen bestellten ihre Lieblingscocktails.
»Esmé?«, fragte Eleanor.
»Cola.«
»Cola?« Eleanor beugte sich vor und tätschelte Esmés Knie. »Sag jetzt nur nicht, du bist heute Abend mit uns hier hergekommen, um Cola zu trinken. Wenn eine von uns etwas Stärkeres gebrauchen kann, dann doch wohl du. Überlass das mal mir. Ich werde dir was bestellen, das dich so richtig aus den Schuhen kippen lässt.«
»Ich trinke keinen Alkohol.«
»Warum nicht?«, fragte die Jüngste unter ihnen.
»Ich muss noch nach Hause fahren. Es ist einfach keine gute Idee.«
Einige Frauen wirkten beleidigt. »Ein Gläschen ist doch nicht gesetzeswidrig«, sagte eine. »Niemand muss hier betrunkener rausgehen, als er will.«
»Du wohnst doch in der Close Street, richtig? Das ist nicht weit von mir in der Ceres Street«, sagte Amy. »Craig bringt dich nach Hause, und ich hole dich morgen früh zur Frühschicht wieder ab, wenn du dir Sorgen wegen dem Fahren machst.«
Wenn sie nicht fahren musste, konnte sie trinken, was sie wollte. Alles. Warum nicht? Sie war heute Abend hergekommen, weil sie etwas trinken wollte. Na dann. »Okay«, sagte Esmé. »Wein?«
Die Stimmung war wiederhergestellt, und sie lachten über sie. »Hier trinkt man keinen Wein.« Es folgte eine hitzige Debatte, welche tödliche Mischung Jack ihr servieren sollte. »Oh, ich weiß«, sagte Amy, die langsamste Kassiererin mit dem schnellsten Lächeln. Sie machte Kunden und Chef gleichermaßen glücklich mit ihrem Charme. »Bringen Sie ihr einen Ampelgeist.«
»Was ist das?«, fragte eine.
»Zeigen Sie es ihr, Jack.«
»Das ist starker Tobak für eine Dame, die nicht gerne trinkt«, meinte Jack.
»Wie wahr«, sagte Eleanor. »Vielleicht wäre zum Einstieg besser ein Bier.«
»Wer sagt denn, dass ich nicht gerne trinke?«, wandte Esmé ein, die allmählich in Stimmung kam. »Jetzt habe ich ja eine Mitfahrgelegenheit nach Hause. Okay, Barmann, ich hätte gern einen Ampelgeist, bitte.«
Jack machte sich an die Arbeit. Sie schauten eine Weile zu, wie er Flaschen wirbeln ließ, ein bisschen von diesem und von jenem hinein in formschöne Gläser goss, doch dann wandten sie einander zu, um den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen.
Die Mütter beschwerten sich über die vollen Stundenpläne der Kinder, darüber, dass die Exmänner den Unterhalt für die
Kinder nicht pünktlich zahlten, dass die Vermieter nervten. Die unverheirateten Frauen diskutierten über verschiedene Verabredungen, die fast alle schlecht gelaufen waren, einige aber auch ganz lustig. Eleanor - Schichtleiterin der Kassiererinnen im Granada Market - leitete nun auch ihr Gespräch, machte Witze und gewann selbst den deprimierendsten Erzählungen noch etwas Komisches ab.
Einer der grauhaarigen Typen mit vom Hut eingedrückten Haaren auf der anderen Seite der Bar kam herüber, und Eleanor entfernte sich mit ihm. Esmé saß auf ihrem Hocker und lächelte an den richtigen Stellen. Sie ließ ihre Gedanken schweifen, während sie in den Spiegel hinter der Bar schaute und den Scheinwerfern der Autos auf dem Boulevard folgte, den roten, weißen und grünen Lichtern, die wie Wasserfarben verschwammen, je dunkler es wurde. Der Geräuschpegel stieg, immer mehr Leute kamen herein, und Esmé nahm vage wahr, dass ein Ärmel sie streifte, jemand sich kurz an ihren Rücken lehnte, Gelächter ausbrach.
Esmé atmete tief aus. Wo blieb ihr verdammter Drink? Er sollte endlich kommen. Die Flaschen glitzerten. Sie sah sich im Spiegel, mit dunklem Haar, adrett, fast sechzig Jahre alt. Besser als vor sechsunddreißig Jahren. Sie überlegte, was ihre Freundinnen wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass dies der erste Drink seit damals war.
Mit Vollgas, den Fuß fest aufs Gaspedal gedrückt, fuhr sie hinauf Richtung Avonbury Street. Das Radio war aufgedreht, und sie sang mit, so laut sie konnte, die Fenster weit geöffnet. An ein solches Ereignis kann man nicht zurückdenken und sich einfach nur erinnern - die Erinnerungen verselbständigen sich, holen einen ein und zucken blitzartig durch das Gedächtnis. Eine Mauer flog auf sie zu. Plötzlich erkannte sie, dass sie auf
der falschen Straßenseite war und der Wagen über den Bordstein auf die Betonschutzwand zuschoss.
»Shit!«
Sie riss das Lenkrad herum, stieg auf die Bremse und konnte so wieder auf die andere Seite der Straße gelangen. Gott sei Dank hatte niemand diese peinliche Aktion mitbekommen. Nach diesem
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