Wo du nicht bist, kann ich nicht sein
wieder gehen müssten, war mir aber nicht sicher, ob sie zugehört hatte. Dad würde wahrscheinlich spät heimkommen, doch darauf konnte ich mich nicht verlassen, und er würde an die Decke gehen, wenn er herausbekam, dass ich ihn angelogen hatte.
Wenigstens Jonathan war auf meiner Seite. Irgendwie war das aber nicht so beruhigend, wie es hätte sein sollen. Obwohl ich Dad so trotzig widersprochen hatte, hatten seine Worte bei mir einen Nerv getroffen. Ich hatte mich nämlich auch schon mal gefragt, ob ich Jonathan nicht zu sehr vertraute. SchlieÃlich war seine erste Nachricht einfach so auf meinem Monitor erschienen. Ausgerechnet auf meinem â und das bei den Millionen von Internetusern. Und er hatte mich verändert. Ich war nie eins von den Mädchen gewesen, die sich schnell auf Leute einlassen, aber auf ihn hatte ich mich total eingelassen. War das einfach so passiert â oder hatte Jonathan mich dazu gebracht? So direkt war nichts gesagt worden, aber ich musste daran denken, dass er darum gebeten hatte, ein Foto von mir sehen zu dürfen. Und er hatte auch nicht gerade damit hinterm Berg gehalten, wie hübsch er Olivia fand. Kranke, alte Typen, die es auf Teenager abgesehen hatten, wussten bestimmt, wie man Mädchen anlockte, ohne dass es gleich auffiel â¦
Ach, halt die Klappe, sagte ich wütend zu mir selbst. In letzter Zeit schien ich mir nur noch Sorgen zu machen. Wenn ich doch lockerer sein könnte!
Als wir am U-Bahnhof High Street Kensington ausstiegen, vibrierte mein Handy. Eine SMS von Jonathan: Denk dran, du musst mich nur anwählen, dann eile ich dir zu Hilfe. :) Die Adresse hab ich mir auf einem Post-it notiert.
»Ganz schön schicke Gegend«, sagte Abby, als wir aus dem Bahnhof kamen. Hier gab es tolle Cafés und Läden mit angesagten Klamotten â genau das, was man von einer EinkaufsstraÃe in einem besseren Viertel erwartete. Ich nahm an, dass wir in irgendeine dreckige Gasse abbiegen mussten, aber Claudia führte uns in eine hübsche StraÃe mit groÃen Reihenhäusern, solche mit vier Stockwerken, die einen Eingang im Souterrain haben. Gabes Haus war zwar nicht so gepflegt wie die anderen, aber mit Sicherheit trotzdem ein Vermögen wert. Vielleicht hatte ich mich ja doch in ihm getäuscht.
»Hey, Mädels.« Gabriel war an die Tür gekommen, mal wieder in Anzug und Krawatte. »Toll, dass ihr da seid, kommt doch rein.«
Ich warf noch einen letzten Blick auf die StraÃe, dann betrat ich das Haus. Der Flur war kahl, auf der altmodischen Tapete waren helle Flecken zu sehen, wo wohl einmal Bilder gehangen hatten, und von der Decke baumelte eine nackte Glühbirne. Die Treppe knarrte, als wir ins nächste Stockwerk hochgingen; dann betraten wir einen groÃen Raum mit hohen Fenstern. Er war spärlich möbliert und auf dem Boden lagen jede Menge leere Lieferservice-Schachteln und Plastikbesteck. Brian und Hugh lümmelten auf einem Sofa herum und sahen fern. Zwischen ihnen saà ein schmutzig wirkender Jack-Russel-Terrier. Als er uns bemerkte, sprang er vom Sofa und fing an zu bellen, dabei wackelte er wie wild mit seinem kurzen Schwanz.
»Kann mal jemand dieses Tier zum Schweigen bringen?« Gabe holte zu einem Tritt aus, doch der Hund wich ihm aus und verzog sich hinter den Fernseher. Aber er hörte auf zu kläffen.
Hugh und Brian rückten und machten Platz für Abby; Claudia legte sich mit Gabe auf das zweite Sofa. Da ich keine anderen Sitzgelegenheiten sehen konnte, blieb ich stehen, wo ich war.
Hugh winkte mir zu. »Hey, Ros. Du musst nicht stehen. Da drüben ist ein Sitzsack.«
Ich holte ihn ran, zog ihn zu Abby rüber und setzte mich vorsichtig.
»Tolles Haus, oder?«, sagte Gabe. »War mal was ganz Vornehmes mit Dienerschaft und so. Es ist so groÃ, dass es ganz oben Räume gibt, für die ich noch gar keine Verwendung habe. Und das ist alles meins.«
»Teilt ihr drei euch das Haus denn nicht?«, fragte Abby.
»Nee, die Jungs sind nichts weiter als menschliches Inventar. Hol uns doch mal was zu trinken, Brian.«
Murrend verlieà Brian den Raum und kam mit einem Sixpack Bier und einer Flasche Wodka wieder. Gabe machte den Wodka auf und reichte Claudia die Flasche, die so tat, als hätte er ihr das groÃartigste Geschenk gemacht. Als die Flasche bei Abby angekommen war, guckte sie skeptisch, nahm aber einen langen Zug. Wahrscheinlich wollte sie
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