Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
können, was die vielen Menschen, die an der Entstehung von ARPANET und TCP/IP beteiligt waren, ebenfalls zu wichtigen Mitwirkenden bei der Erschaffung des Web macht. Wären diese Plattformen proprietär gewesen – das heißt, hätten ihre Erfinder für das Privileg, auf ihre Technologie eine weitere aufzusetzen, Lizenzgebühren verlangt –, ist es durchaus möglich, dass Berners-Lee gar nicht versucht hätte, das World Wide Web zu erschaffen, das schließlich nur ein Nebenprojekt war, von dem seine Vorgesetzten so gut wie nichts wussten.
Es liegt in der Natur guter Ideen, dass sie auf den Schultern der Riesen stehen, die vor ihnen kamen. Bis zu einem gewissen Grad ist jede wichtige Innovation einem Netzwerk entsprungen. Um der Klarheit willen wollen wir aber die Grenze zwischen »individuell« und »vernetzt« nicht unnötig verwischen, indem wir alle vorangegangenen Innovationen mit berücksichtigen. Natürlich baute Gutenbergs Erfindung auf der Spindelpresse der Winzer auf, aber das macht die Druckerpresse noch lange nicht zu einer in einem Kollektiv entwickelten Erfindung, wie es beim Internet der Fall war. Also gehören Gutenberg und Berners-Lee auf die individuelle Seite des Spektrums.
Es gibt keine mathematische Formel für diese Einteilungen, und sie sind zugegebenermaßen ein Stück weit subjektiv. Doch ich glaube, dass sie als Ganzes betrachtet ein interessantes Muster zutage fördern. Interessant genug zumindest, um kleine Ungenauigkeiten zu tolerieren. Bestimmte historische Entwicklungen wie etwa das Wachstum von Städten, Märkten oder Bevölkerungenbetrachten wir gerne in verdichteter Form auf einem Zeitstrahl, auf dem jede Markierung einem ganzen Jahrhundert entspricht. In dieser komprimierten Form werden Entwicklungen sichtbar, die bei Gegenwartsanalysen oder Einzelbeispielen verborgen bleiben würden. Malthus‘ Bevölkerungsgesetz, das Darwin und Wallace inspirierte, ist ein frühes Beispiel für diesen Effekt. Kulturelle Entwicklungen betrachten wir jedoch nur selten auf diese Weise. Einen Großteil unserer Ideengeschichte entwickelte sich wie Darwins jahrelange minutiöse Forschungsarbeit, die der Veröffentlichung von
Die Entstehung der Arten
vorausging: Darwin untersuchte die einzelnen Spezies, analysierte ihre charakteristischen Merkmale und klassifizierte sie entsprechend. Diese Herangehensweise ist geeignet, wenn man verstehen will, wie eine bestimmte Idee zu einem bestimmten Zeitpunkt entstehen konnte. Wollen wir aber einen Schritt weitergehen und stellen uns die Frage, wie gute Ideen überhaupt entstehen, müssen wir das Problem aus einem anderen Blickwinkel untersuchen. Manchmal muss man mit der Lupe hinsehen, aber manchmal ist es besser, ein Stück herauszuzoomen und die Dinge durch ein Weitwinkelobjektiv zu betrachten.
Mit dieser Herangehensweise exaptiere ich eine Technik, die der Literaturwissenschaftler Franco Moretti »Lesen aus der Distanz« nennt. In einer Reihe einflussreicher Bücher und Essays hat Moretti sich in den letzten Jahren von der wissenschaftlichen Tradition des »genauen Lesens« losgesagt, bei der einzelne Texte bis in kleinste Details analysiert werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob man mithilfe des genauen Lesens das einzigartige Talent eines Autors würdigen oder z. B. seine latente Homophobie ans Licht zerren will. In beiden Fällen wird jeder einzelne Satz als potenzielle Argumentationsgrundlage betrachtet und genau unter die Lupe genommen. »Im Grunde genommen«, schreibt Moretti, »ist dieses Verfahren eine geradezu mönchische Praxis: Einige wenige Textewerden mit größtem Respekt sehr, sehr ernst genommen.« Lesen aus der Distanz gleicht eher einer Satellitenaufnahme der literarischen Landschaft, es sucht nach Mustern in der Entwicklung der Geschichten, die Menschen einander erzählen. In einer für seine innovative Herangehensweise typischen Analyse zeichnete Moretti die Evolution der Subgenres in der britischen Populärliteratur von 1740 bis 1915 nach. Heraus kam dabei ein immenses Spektrum an Erzählformen: Spionageromane, pikaresker Roman, Schauerroman, Seefahrergeschichten, Krimis und Dutzende anderer. Die Zeit, die sich jedes dieser Genres als vorherrschende Spezies in der britischen Literaturlandschaft halten konnte, stellte er in einer Grafik dar.
(s. S. 227 )
Liest man Romane, wie Moretti es vorschlägt, aus der Distanz, treten Muster zutage, die auf der Ebene von einzelnen Seiten oder Absätzen und selbst ganzen Büchern nicht zu erkennen
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