Wo ist Thursday Next?
Denksportaufgaben erzählt werden mussten. Das letzte Mal, als wir uns gesehen hatten, wäre ich beinahe von einem Tiger gefressen worden, wenn Thursday nicht interveniert hätte.
»Ich habe daran gedacht, Fanfiction zu besuchen«, sagte ich.
»Kein Problem«, sagte Julian in seinem eigentümlichen Singsang. »Hinübergehen darf jeder – aber rauskommen keiner.«
Als ob er den letztgenannten Punkt unterstreichen wollte, tätschelte der zweite Showmaster sein großkalibriges Jagdgewehr.
»Außer natürlich, du willst
Puzzlemania
mit uns spielen?«
»Was kann ich denn da gewinnen?«
»Einen Satz Steakmesser.«
»Und wenn ich verliere?«
»Dann zerstören wir dich mit einem Eraserhead.«
»Das ist auch nur fair. Ich bin dabei.«
Sparkle lächelte herzlich, und ich trat auf eine Markierung am Boden, die er mir zeigte. Im selben Augenblick versank die Umwelt im Dunkel, nur Sparkle und ich standen plötzlich im Scheinwerferlicht. Irgendwo aus dem Nichts kam eine kurze Salve Applaus.
»Also, Thursday Next, heute spielen wir
Flucht über die Brücke.
« Er zeigte auf den langen Damm, der zur Fanfiction hinausführte. »Es gibt keinen Weg um die Brücke herum, und wenn du zu schwimmen versuchst, wirst du in der TextSee aufgelöst.«
»Aha, und?«
»Das ist alles. Du gehst rüber, und solange du auf die Insel zugehst, ist alles in Ordnung. Aber wenn du in unsere Richtung kommst, müssen wir leider schießen. Wir kontrollieren alle dreißig Sekunden, und es dauert vier Minuten, über die Brücke zu rennen.«
Als ob er diesen letzten Punkt unterstreichen wollte, zeigte der zweite Showmaster auf einen Mann, der sich über die Brücke zu schleichen versuchte, während wir uns unterhielten. Er hob das Gewehr an die Schulter und feuerte. Der unglückliche Flüchtling explodierte in einer Chrysantheme von Text, auf den die Möwen sich gierig stürzten.
»Ha, ha!«, sagte der Showmaster, als er das Gewehr durchlud. »Wieder einen Frodo erwischt.« Er machte sich eine Notiz aufseiner Abschussliste, auf der schon einige Hundert andere Frodos, drei Dutzend Gandalfs, eine Fülle von Pratchett-Figuren und sechsundsiebzig Harry Potters standen.
»Also, los geht’s«, sagte Sparkle. »Mach dich auf den Weg, Thursday.«
»Wollen Sie keine Antwort von mir?«
Er lächelte auf eigenartig unangenehme Weise. »Die kannst du dir für die Rückkehr aufheben.«
Ich ging mit schwerem Herzen über die Brücke, denn ich hatte keine Ahnung, wie ich wieder zurückkommen sollte. Aber als ich drüben war, hatte ich das Gefühl, dass gerade eine tolle Party im Gang war. Jeder redete mit jedem, und die leichte Depression, die mich auf Vanity Island erfasst hatte, schien völlig verschwunden zu sein.
»Worum geht’s denn bei dieser Party?«, fragte ich die Hobbit-Lady, die mir einen Drink in die Hand gedrückt hatte.
»Wo kommen Sie denn her?«, fragte sie lächelnd. »Wir machen hier immer Party. Fanfiction ist ein einziges großes Fest, vom ersten Großbuchstaben am Anfang bis zum letzten Punkt am Schluss.«
»So habe ich das noch nie gesehen.«
»Das geht anderen auch so. Besonders die Autoren, die allen Grund hätten, sich über die Fans zu freuen. Die sind echt ein Haufen pompöser Fettköpfe – also ich meine das jetzt gar nicht böse. Tolle Klamotten haben Sie an.«
»Vielen Dank.« Die Hobbit-Frau nickte und wanderte weiter.
»Thursday?«
Ich drehte mich um und starrte – nun ja, mich
selbst
an. Ich wusste, dass sie nicht ich war, denn sie war sehr viel schmaler. Das heißt, als ich mich jetzt umsah, entdeckte ich, dass praktisch alle Anwesenden wie echte Figuren aussahen, aber irgendwie … dünner waren. Manche waren kaum flacher als normale Personen, aber manche hatten so wenig Tiefe, dass sie nur wie bewegliche Pappscheiben wirkten.
»Warum sind die Leute hier alle so flach?«, fragte ich.
»Das ist eine unvermeidliche Folge dessen, dass wir von woandersgeborgt sind«, erklärte meine Gesprächspartnerin, die nur einen Zentimeter dick, aber sonst völlig normal war. »Wir sind deswegen nicht schlechter als andere. Aber wenn man von jemandem geschrieben wird, der die unbewussten und ungeschriebenen Nuancen einer Figur nicht spürt und versteht, führt das unweigerlich dazu, dass man ein bisschen flach bleibt.«
Das war nicht dumm. Ich hatte noch nie so richtig darüber nachgedacht, aber es erklärte, warum der Edward Rochester und eigentlich alle »ausgeliehenen« Gestalten in meiner Serie so
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