Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
irgendwie allein mit der Situation zurechtkommen – ganz besonders heute. Denn in ein paar Stunden stand die Anhörung vor dem Vormundschaftsgericht an.
Seufzend wandte Finja den Blick vom Spiegel ab und wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser – danach fühlte sie sich wenigstens ein klein wenig besser. Nachdem sie sich sorgfältig geschminkt und ihr hellblondes Haar im Nacken zusammengesteckt hatte, zog sie ein schmal geschnittenes Kostüm an, das aus einer teuren Boutique auf der Fifth Avenue stammte. Der warme Braunton des Stoffs würde ihre Blässe zumindest ein wenig abmildern.
Als Finja kurz darauf in den großen Wandspiegel blickte, fand sie das Endergebnis einigermaßen akzeptabel. Sie konnte nur hoffen, dass der Vormundschaftsrichter die Fassade der selbstbewussten New Yorker Galeristin nicht durchschaute. Denn wenn der Richter sah, was sich darunter verbarg, würde er ihr die Verantwortung für einen fünfjährigen Jungen ganz gewiss nicht überlassen.
Aber wie lange konnte sie das noch durchhalten? Seit sie gezwungenermaßen wieder in Dvägersdal lebte, verschlechterte sich ihr seelischer Zustand von Tag zu Tag. Linus war der einzige Grund, warum sie sich morgens überhaupt noch aus dem Bett quälte. Aber so konnte es auf Dauer einfach nicht weitergehen.
Ein Klopfen an ihrer Zimmertür riss sie aus ihren Grübeleien. “Bist du so weit, Finja?”, hörte sie Sanders Stimme vom Korridor aus. “Wir sollten langsam aufbrechen.”
Finja öffnete die Tür. Wieder einmal stellte sie fest, wie attraktiv Sander war. Das anthrazitfarbene Jackett, zu dem er schwarze Jeans trug, harmonierte perfekt mit seinen schiefergrauen Augen. Sein dunkelblondes Haar hatte er locker zurückgekämmt, ein paar Strähnen fielen ihm ins Gesicht, was ihn insgesamt weniger streng wirken ließ.
Es war lange her, dass Finja ihn auf diese Weise betrachtet hatte, und es beunruhigte sie ein wenig, dass sie ausgerechnet jetzt damit anfing. Das zwischen Sander und ihr war vorbei, und zwar schon seit Jahren. Aber wenn das stimmte, warum brachte sein Anblick ihr Herz dann immer wieder aufs Neue zum Flattern? Warum hatte sie in seiner Gegenwart so oft das Gefühl, als würde die Luft knistern, als sei sie elektrisch aufgeladen?
Sie spürte, dass Sander sie eindringlich musterte. “Du siehst müde aus”, stellte er schließlich fest. “Willst du mir nicht doch endlich sagen, was dich bedrückt? Vielleicht kann ich dir ja helfen.”
Finja zwang sich zu einem Lächeln. “Es ist alles in bester Ordnung – und jetzt sollten wir uns besser beeilen. Es macht bestimmt keinen guten Eindruck, wenn wir zu unserem Termin mit dem Richter zu spät erscheinen.”
Das Vormundschaftsgericht befand sich im knapp neunzig Kilometer entfernten Falun, das im Herzen des Bergbaugebiets Bergslagen lag. Ihr Weg führte sie entlang einer von zahllosen Seen, Feldern und immergrünen Wäldern durchsetzten Landschaft. Doch Finja hatte kaum ein Auge für die Schönheit der Natur – sie konnte die ganze Zeit nur daran denken, was ihr wohl in Falun bevorstehen mochte.
Als Sander und sie die Stadt schließlich erreichten, blieb ihnen noch ein wenig Zeit bis zu ihrem Termin. Sie hatten es für besser gehalten, Linus in Susannas Obhut zu Hause in Dvägersdal zu lassen, um ihn nicht unnötig zu belasten.
“Wollen wir irgendwo noch einen Kaffee trinken?”, schlug Sander vor.
Seit sie nach Schweden zurückgekehrt waren, schien er sich in einen vollkommen anderen Menschen verwandelt zu haben. Er verhielt sich ihr gegenüber freundlich und zuvorkommend, man konnte fast sagen liebevoll. Finja wusste natürlich, dass dies nur zu seiner Rolle des liebenden Ehemannes gehörte, die er ausschließlich Linus zuliebe spielte. Hin und wieder vergaß sie es aber, und dann fühlte es sich wieder an wie früher – bevor sich nach dem ersten halben Jahr in New York plötzlich alles verändert hatte.
Doch das war nur eine Illusion. Man konnte die vergangenen fünf Jahre voller Enttäuschungen und Zurückweisungen nicht einfach ungeschehen machen – oder?
Sie fanden ein Café in Sichtweite der
Stora Kopparbergs Kyrka
, einer im gotischen Stil errichteten Kirche aus dem 14. Jahrhundert, deren Turmspitze hoch in den blauen Frühlingshimmel ragte. Sander bestellte für sie beide Kaffee und
Kanelbullar
, doch obwohl Finja das Zimtgebäck normalerweise heiß und innig liebte, bekam sie jetzt keinen einzigen Bissen hinunter.
“Was ist los mit dir?”, fragte Sander
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