Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
schlief – saß Finja mit einem Buch im Salon und versuchte sich auf die Handlung des Romans zu konzentrieren. Doch die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, und stattdessen sah sie immer wieder Sanders Gesicht vor sich.
Seufzend klappte sie den Buchdeckel zu und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Was war bloß mit ihr los? Doch das war gar nicht so schwer zu erraten. Die einfache und zugleich komplizierte Antwort lautete: Sie vermisste Sander. Gleichzeitig war sie wütend auf ihn, weil er sich einfach so aus dem Staub machte, wenn es schwierig wurde. Natürlich glaubte sie nicht, dass er Linus und sie im Stich lassen wollte. Nein. Möglich, dass seine Firma tatsächlich in Schwierigkeiten steckte, die seine volle Aufmerksamkeit beanspruchten, doch sie kaufte ihm nicht ab, dass das sein einziger Bewegrund war.
In Wahrheit wollte er einfach nur fort von ihr – fort von seiner Ehefrau.
Es war nicht so, dass sie ihn nicht verstehen konnte. Mit ihm zu schlafen hatte Gefühle in ihr wieder aufflammen lassen, an deren Existenz sie schon längst nicht mehr geglaubt hatte. Und nun, wo sie zu neuem Leben erwacht waren, gelang es Finja einfach nicht, sie wieder unter Kontrolle zu bringen.
Sie wusste ja selbst nicht, wie es weitergehen sollte. Sie wagte es nicht, ihr Herz für Sander zu öffnen, aus Angst, er könnte es wieder mit Füßen treten, so wie er es schon einmal getan hatte. Aber was sollte sie denn nur tun?
Mit einem Seufzen stand sie auf, öffnete die Terrassentür und trat hinaus in die klirrende Kälte der Frühlingsnacht. Vielleicht würde ein wenig frische Luft ihr dabei helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Fröstelnd schlang sie die Arme um den Körper und trat an die Brüstung der Terrasse. Von hier aus konnte man bis hinunter zum See schauen, der still und starr wie ein Spiegel dalag. Doch auch dieser friedvolle Anblick verhinderte nicht, dass sie immerzu an Sander denken musste. Sie fühlte sich kein bisschen besser als zuvor, ihr war lediglich kalt.
Gerade wollte sie wieder ins Haus zurückkehren, als sie aus den Augenwinkeln eine flatternde Bewegung am Seeufer wahrnahm. Wie von selbst wanderte ihr Blick zurück, und sie blinzelte irritiert, als sie ein Mädchen in einem weißen Sommerkleid unten am Ufer stehen sah. Sie trat einen Schritt vor – und hatte das Gefühl, innerlich zu Eis zu erstarren. Obwohl sie das Gesicht des Mädchens auf die Entfernung nicht genau erkennen konnte, wusste Finja doch intuitiv, um wen es sich handelte.
Audrey.
“Mein Gott!” Finja spürte, wie sie am ganzen Körper zu zittern begann, doch sie konnte sich einfach nicht abwenden. Tränen liefen ihr über die Wangen. Es tut mir leid, Audrey, wiederholte sie in Gedanken immer und immer wieder. Es tut mir so schrecklich leid …
“Tante Finja, erzählst du mir eine Geschichte? Ich kann nicht schlafen!”
Finja wirbelte herum, als sie Linus’ Stimme hinter sich hörte. Sie zwang sich zu einem Lächeln und scheuchte den Jungen, ohne noch einmal zurückzublicken, ins Haus. Sie wusste zwar nicht, ob er sehen würde, was sie gesehen hatte, doch sie wollte das Risiko nicht eingehen.
“Du solltest längst im Bett liegen, junger Mann”, tadelte sie ihn sanft. Als sie die Vorhänge vor der Terrassentür zuzog, mied sie den Blick aufs Seeufer. “Komm, ich bringe dich nach oben.”
“Und die Geschichte? Liest du mir eine vor?”, bettelte Linus.
Sie nickte. “Natürlich. Aber nur eine ganz kurze, hörst du? Und danach wird geschlafen.”
Sie nahm die Hand ihres kleinen Neffen. Der vertrauensvolle Blick seiner hellblauen Augen vertrieb die eisige Kälte, die draußen auf der Terrasse von ihr Besitz ergriffen hatte. Inzwischen war Finja gar nicht mehr so sicher, was sie da eigentlich gesehen hatte. Vermutlich spielten ihre Nerven bloß verrückt. Bestimmt war das Mädchen im weißen Sommerkleid nur eine harmlose Spaziergängerin, die aus der Entfernung Audrey ein wenig ähnlich sah.
Sie wusste es nicht, fest stand nur, dass es zwei Menschen gab, in deren Gegenwart sich ihre Ängste und Sorgen einfach in Luft auflösten. Linus war einer dieser Menschen, und bei dem anderen handelte es sich ausgerechnet um Sander.
In diesem Moment wurde Finja klar, dass es bereits zu spät war, um ihr Herz vor einer erneuten Enttäuschung zu schützen: Sie hatte sich schon längst wieder in Sander verliebt. Und es gab nichts mehr, was sie jetzt noch dagegen tun konnte.
Seltsamerweise jagte ihr der Gedanke jetzt nicht
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