Wo niemand dich sieht
alter Knabe. Er wird Ihnen gefallen.«
Ich erkundigte mich erneut. »Worüber wollten Sie mit Paul reden?«
Maggie nahm ihre Gabel und drehte sie zwischen den Fingern herum, so wie der alte Mann vorhin seine Baseballkappe. Ihre Lederhandschuhe hatte sie ausgezogen. Sie hatte elegante, weiße Hände mit kurzen Fingernägeln und Schwielen an den Daumen. »Einfach nur reden«, entgegnete sie. »Ich kann’s noch immer nicht fassen, wie viel Glück Jilly hatte. Rob Morrison, der Streifenpolizist, der ihr das Leben gerettet hat, ist letztes Jahr Dritter beim Iron Man in Hawaii geworden. Das bedeutet zwei Meilen Schwimmen, hundert Meilen Rad fahren und sechsundzwanzig Komma zwei Meilen laufen. Er ist in einer unglaublich guten körperlichen Verfassung. Jeder andere würde wahrscheinlich jetzt noch nach Jilly tauchen. Das Glück, das sie trotzdem hatte, ist einfach unfassbar.«
Ich war sowohl dankbar als auch neidisch. »Der Iron-Man-Wettbewerb. Ich hab einen Freund, der mal dran teilgenommen hat. Er hat es bis Kona geschafft, aber dann hat er beim Marathon einen Krampf gekriegt. Ich möchte diesen Kerl kennen lernen. Ich wünschte, ich hätte ihm mehr zu geben, als nur meinen aufrichtigen Dank.«
»Nach dem Essen.« Sie nahm ihr Glas Eistee, das soeben von Mr. Pete, der nun eine rote Schürze trug, serviert worden war. Er nannte sie Miss Sheriff. »Rob hat zur Zeit Nachtschicht und schläft tagsüber. Er müsste bald aufstehen. Ich möchte mir seine Geschichte auch noch mal anhören, also werde ich Sie zu ihm bringen. Sie haben mich ziemlich geschickt gefragt, worüber ich mit Paul reden wollte.« Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Ich möchte erfahren, wer oder was Jilly dazu bewegt hat, so etwas zu machen. Wenn es jemand weiß, dann Paul.«
Dieser Frage konnte und wollte ich mich noch nicht stellen. »Sie wohnen doch erst seit fünfeinhalb Monaten in diesem Ort. Paul ist hier aufgewachsen, wissen Sie.«
»Ja, aber er hat jetzt keine Verwandten mehr hier. Seine Eltern sind vor ungefähr drei Jahren mit einem Privatflugzeug über den Sierras bei Tahoe abgestürzt. Sie waren leidenschaftliche Skifahrer. Die Leichen wurden nie gefunden, was seltsam ist, da doch die meisten Flugzeugwracks nach der Schneeschmelze wieder auftauchen. Pauls Onkel ist vor etwa zwei Jahren an Krebs gestorben und seine übrigen Cousins und Cousinen leben im ganzen Land verstreut.
Wieso ist er wieder hierher gezogen? Das soll keine Beleidigung sein, aber Edgerton ist ein Provinznest. Renommierten Forschern, wie es die beiden, wie Jilly mir bestätigte, waren, hat dieser Ort doch nichts zu bieten.«
Jetzt kam mein Salat, eine mächtige Schüssel mit grünem Salat, rotem Paprika, Bratkartoffeln und grünen Bohnen, darüber ein Riesenklecks Ranch Dressing. Ich fand, er sah wundervoll aus. »Na los, nun hauen Sie schon rein«, forderte sie mich grinsend auf, und ich ließ mich nicht zweimal bitten. »Nicht schlecht«, schwärmte ich mit geschlossenen Augen und nahm gleich noch ein paar Gabeln. »Schon besser. Als Jilly mich vor etwa sechs Monaten anrief, sagte sie, dass Vio-Tech - die pharmazeutische Firma, bei der sie beide arbeiteten - Pauls Forschungsarbeit nicht fortsetzen wollte. Jilly sagte, er wäre stinksauer deswegen und wollte hierher ziehen, um auf eigene Faust weiterzumachen.«
»Und Jilly? Was wollte sie?«
»Sie sagte, sie wolle ein Kind. Viel Zeit bliebe ihr dafür nicht mehr.«
»Das hat Jilly gesagt?« Maggie war gerade dabei, sich ein Brötchen mit Butter zu bestreichen. Sie hielt inne und starrte mich fassungslos an. Kopfschüttelnd sagte sie: »O nein, das ist ganz unmöglich.«
»Wieso?«
»Sie hat mir nicht nur einmal, nein, mehrmals gesagt, dass sie und Paul nie Blagen hätten haben wollen. Dafür seien sie viel zu große Egoisten. Für ein Kind wäre in ihrem Leben kein Platz.«
Nun ja, dann hatte sie seit unserem letzten Gespräch eben ihre Meinung geändert.
»Hackbraten is aus«, verkündete Mr. Pete höchst zufrieden. »Pierre hat nich genug gemacht. Die Frühstücksgäste haben das meiste davon aufgegessen. Wie wär’s mit Fish ’n Chips mit frittierten Zwiebelringen?«
Derart fettige Kost konnte mir zurzeit nur gut tun, entschied ich und nickte.
4
Rob Morrison wohnte etwa zwei Meilen südlich von Edgerton in einem kleinen, von vereinzelten Föhren umstandenen Holzhaus. Eine schmale, ungeteerte Straße, die von einem Schild als Penzance Street ausgewiesen wurde, schlängelte sich durch Täler und über
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