Wo niemand dich sieht
Cal schüchtern.
»Was denn?«, fuhr Maggie sie ungehalten an.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Cal zögernd und wich unseren Blicken aus. »Aber manchmal sieht man dort unheimliche Schatten, oder man hört eine Art Flüstern. Die Bäume flüstern miteinander, finde ich. Die Schierlingstannen scheinen die Gräber einzukreisen. Man kann sich richtig vorstellen, wie sie mit ihren Wurzeln die Särge umklammern, sie vielleicht aufknacken und die Toten...« Cal zuckte mit den Schultern. Dann versuchte sie zu lächeln. »Nein, das ist albern, nicht?«
»Ja«, bestätigte Maggie. »Sehr albern sogar. Tote sind vollkommen uninteressant, und mehr gibt’s auf dem Friedhof nicht. Nur schimmlige alte Knochen. Also Cal, Mac hier weiß nicht, dass du Künstlerin bist und manchmal recht eigenartige Ansichten hast. Also hör auf, dich merkwürdig zu benehmen. Das bist du nämlich nicht. Nicht wirklich.«
»Also ich würde da nachts nicht hingehen wollen«, piepste Cal. »Nicht mal, wenn ich betrunken wäre. Ein unheimlicher Ort.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Jilly Ihnen betrunken vorkam, als Sie sie um etwa einundzwanzig Uhr dreißig sahen?«, hakte ich sofort nach.
Cal schwieg, und Maggie sagte: »Keiner hat was von betrunken gesagt. Nur >’n bisschen überdreht<, wie Mr. Pete sich ausdrückte, eben typisch Jilly. Ich hab mich bei den Ärzten erkundigt, nachdem die Untersuchungen abgeschlossen waren. Ihr Alkoholpegel im Blut war nicht übermäßig hoch, so wie er ist, wenn man ein, zwei Gläser Wein getrunken hat. Auch Drogen schien sie nicht genommen zu haben. Von Betrunkenheit kann also nicht die Rede sein. Also, Cal, hast du sie danach noch mal gesehen?«
Cal schüttelte den Kopf. Sie ging einen Schritt auf die Tür zu. Ich trat vor. »Maggie, setzen Sie ruhig Ihr Gespräch mit Paul fort. Ich begleite Miss Tarcher zu ihrem Wagen.«
Ich dachte, Cal wollte vor mir davonlaufen, so schnell eilte sie zur Haustür. Was war bloß los mit dem Weibsbild?
»Cal, warten Sie«, sagte ich mit leiser, aber kühler und durchdringender Stimme, meiner perfekten FBI-Stimme. Sie reagierte sofort auf diese Stimme und blieb wie angewurzelt stehen. Ich nahm sie beim Ellbogen und steuerte sie nach draußen.
Es war ein kühler, glasklarer Morgen, nur eine leichte
Brise fuhr in meine Haare. Ich sog die salzige, frische Meeresluft in meine Lungen; der Geruch erschien mir noch ebenso neu und prickelnd wie gestern.
Sie starrte wieder auf ihre Füße und ging rasch, um wohl so schnell wie möglich von mir fortzukommen. Ich schwieg, bis wir ihren Wagen erreichten, einen hellblauen BMW Roadster mit offenem Verdeck. Als sie die Wagentür aufmachte, berührte ich sie leicht an der Schulter. »Einen Moment, Miss Tarcher. Was ist los? Wovor haben Sie solche Angst?«
Zum ersten Mal schaute sie mich richtig an, sah mir gerade in die Augen, kein Verdrucksen, kein Auf-die-Füße-Gucken. Ihre Augen hinter den runden Brillengläsern waren blassblau, mit ein wenig Grau darin. Kühle Augen waren das, kühl und intelligent. Und noch etwas anderes, ich wusste nicht was. Sie richtete sich auf, straffte die Schultern. Sie war doch nicht so klein, wie ich dachte. Tatsächlich wirkte sie im Moment sogar hoch gewachsen, wie sie so dastand, richtig arrogant. Ihre Stimme war ebenso kühl wie ihr Blick. »Das, Mr. MacDougal, geht Sie nichts an. Einen schönen Tag. Wir sehen uns morgen Abend, falls Sie bis dahin noch nicht abgereist sind.« Sie warf noch einen letzten Blick zum Haus und fügte hinzu: »Wen interessiert das überhaupt?«
»Mich«, entgegnete ich.
Sie nickte mir gleichgültig zu, kletterte in ihren Roadster und war in weniger als zehn Sekunden um die Ecke der Liverpool Street verschwunden. Sie schaute kein einziges Mal zurück.
Cal Tarcher schien aus zwei völlig unterschiedlichen Persönlichkeiten zu bestehen. Es machte mich ganz verrückt, dass ich hier niemanden kannte, nicht genug über diese Leute wusste, um das Puzzlespiel zusammensetzen zu können.
Ich stand da und starrte aufs Meer hinaus. Ruhig und fast unbewegt erstreckte es sich bis zum endlosen Horizont. Ein einsames Fischerboot dümpelte auf dem Wasser, nicht mehr als hundert Meter vom Land entfernt. Aus dieser Entfernung konnte ich zwei Leute darin erkennen, die regungslos im Boot saßen. Seufzend wandte ich mich zum Haus zurück.
Maggie kam aus dem Haus gerannt und schob dabei ihr Handy in ihre Jackentasche zurück. »Bis später, Mac!«, rief sie atemlos. »Doe Lambert hat gerade
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