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Wo niemand dich sieht

Titel: Wo niemand dich sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
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raues, heiseres Blöken klangen. Es klang, als würde sie gefoltert. Es dauerte jedoch nicht lange und ihr ging die Kraft aus. Sie sank in meinen Armen zusammen. Ich war sehr erleichtert darüber, weil ich Angst gehabt hatte, sie könnte sich verletzen. So behutsam wie möglich bettete ich sie wieder aufs Kissen zurück. »Jilly«, sagte ich leise, beugte mich über sie und gab ihr einen sanften Kuss auf die Nasenspitze. »Nein, nicht die Augen zumachen. Schau mich an. Du musst wach bleiben. Nicht wieder einschlafen. Vielleicht wachst du dann ja nicht mehr auf. Jilly, du musst wach bleiben. Verstehst du?«
    »Ja, ich versteh dich gut, Ford«, flüsterte sie. Ihre Stimme war ganz schwach, ein Hauch nur und so leise, dass ich sie kaum hören konnte.
    Ich tätschelte ihre Wange, strich ihr mit den Fingern durchs Haar. Sie fühlte sich warm und lebendig an, war wieder da, wieder bei mir. Ich hätte platzen können, so erleichtert war ich. »Gut.« Ich beugte mich näher. »Hör zu, Jilly. Du hast vier Tage im Koma gelegen. Jetzt bist du wieder aufgewacht. Jetzt wird alles wieder gut. Jilly, halt die Augen offen. Blinzle mich an. Ja, so ist’s gut. Kannst du mich richtig sehen?«
    »Ja, Ford. Ich bin so froh, dass du da bist.«
    Mit ihrem Verstand war alles in Ordnung, da war ich mir sicher. Jilly war wieder da, die alte Jilly. Ihr Blick war konzentriert, und sie starrte mich angestrengt an, bemüht, nicht wieder abzudriften. »Du bist die Einzige, die mich noch Ford nennt«, sagte ich grinsend und küsste sie auf die Wange.
    »Für mich warst du nie Mac. Ich hab solchen Durst.« Rasch goss ich Wasser aus der Karaffe in ein kleines Glas auf ihrem Nachttisch und stützte sie beim Trinken. Als sie fertig war, wischte ich ihr das nasse Kinn ab. Sie räusperte sich, schluckte ein paarmal und sagte dann: »Als du zum ersten Mal durch diese Tür kamst, konnte ich’s kaum glauben. Du warst real, du warst wirklich, ganz anders als die anderen. Dass du da warst, war einfach wundervoll. Ich war so allein.«
    Es überraschte mich nicht wirklich, dass sie mich gesehen, dass sie jedes Wort von mir gehört, jeden Gesichtsausdruck wahrgenommen hatte. Sie hätte mir auch sagen können, was ich zum Frühstück gegessen hatte, dass sie es hätte schmecken können, und ich hätte keine Sekunde daran gezweifelt. Deshalb erwiderte ich nur: »Ich war also real? Und die anderen nicht? Was genau meinst du?«
    »O ja«, sagte sie und brachte ein mühsames Lächeln zustande. »Du warst sehr real. Die anderen nicht. Alle anderen, die da waren, waren nur schemenhaft, wie Schatten, aber nicht du, Ford, du nicht. Du warst ganz da. Du hast meine Hand genommen, und ich hab Wärme gefühlt. Danke.«
    Nein, überrascht war ich nicht, aber es konnte ja immerhin sein, dass ich seit dem Bombenanschlag in Tunesien ein paar Schräubchen locker hatte. Eine übersinnliche Verbindung mit meiner Schwester? Was die FBI-Profiler wohl dazu sagen würden?
    Ich hörte Rufe und lautes Fußgetrappel. Zwei Schwestern und ein Arzt versuchten sich gleichzeitig durch die Tür ins Zimmer zu zwängen. Ich musste lachen, weil ich dabei unwillkürlich an die drei Stooges erinnert wurde.
    Danach herrschte ein einziges Durcheinander.
    Dr. Sam Coates hatte ein bleistiftdünnes schwarzes Oberlippenbärtchen, wie es in den Dreißigern modern gewesen war, dazu einen Glatzkopf. Er sagte: »Wir werden zwar noch jede Menge Tests machen, aber so, wie es ihr jetzt geht, kann man fast schon sicher sagen, dass sie weder physische noch mentale Schädigungen davongetragen hat.« Er klang ganz kühl und professionell, aber man sah ihm an, dass er strahlte wie ein Weihnachtsbaum. Die Schwestern übrigens auch. Sie hüpften aufgeregt neben ihm auf und ab, nickten lächelnd und sahen überhaupt so aus, als wollten sie gleich in ein Halleluja ausbrechen. Dr. Coates fuhr, heftig gestikulierend, fort. Wahrscheinlich war es ihm ebenso unmöglich, wie den Schwestern, gelassen zu bleiben. »Es ist ein Wunder, Mr. MacDougal, man kann es nicht anders sagen. Ein reines Wunder, das wir alle hier erleben durften. Eine solche vollständige Rekonvaleszenz ist mir nur einmal in meinem bisherigen Berufsleben untergekommen, und das war nach einer Überdosis. Aber nach einem Schädeltrauma? Nein, noch nie. Um ehrlich zu sein, ich begann schon zu fürchten, sie würde vielleicht nie mehr aufwachen.«
    Er streckte mir seine Hand entgegen, und ich schüttelte sie bereitwillig. Ich war ihnen allen zutiefst dankbar.

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