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Wo niemand dich sieht

Titel: Wo niemand dich sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
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von Blumen, von weichem, feuchtem Moos, von Bäumen und heller, glasklarer Luft.
    Ich atmete tief ein. Dann drehte ich mich um und sah einen großen, hakennasigen Mann auf uns zukommen. Das musste Alyssum Tarcher sein, der Patriarch von Edgerton, Oregon.
    Ich selbst bin einsachtundachtzig groß und wog bis vor dem Unfall gut neunzig Kilo. Dieser Mann war mindestens sechs Zentimeter größer als ich, aber kein Gramm schwerer. Er musste so um die sechzig sein, und er hatte dichtes, grau meliertes Haar. Ein starker, vitaler Mann, schlank und drahtig, ohne jeden Bauchansatz. Er strahlte Macht und Selbstbewusstsein aus. Sein Sohn Cotter stand stiernackig und finster neben ihm - ein richtiger Bandit. Faszinierender Gegensatz. Wahrscheinlich hatte er sich gerade erst rasiert, doch man sah schon wieder einen leichten Bartschatten. Mit den Fingerknöcheln knackend, beobachtete er mich.
    »Ford MacDougal?«
    Alyssum Tarchers Stimme war tief und volltönend, wie ein guter Kentucky-Bourbon.
    »Ja, Sir«, erwiderte ich. Er streckte mir seine Hand hin, und ich schüttelte sie. Eine Künstlerhand, dachte ich, schlank und langgliedrig. Viel zu glatt.
    »Sie und Jilly sehen einander überhaupt nicht ähnlich«, bemerkte Alyssum Tarcher und blickte mir bis in die Eingeweide, zumindest kam es mir so vor. Ein gefährlicher Mann. Viel gefährlicher als sein stiernackiger Sohn.
    »Nein«, antwortete ich, »das stimmt.«
    »Natürlich sind Sie beide sehr gut aussehend, der dunkle Typ. Meinen Sohn Cotter haben Sie schon kennen gelernt?«
    Ich schüttelte Cotter lächelnd die Hand. Sollte er ruhig als Erster das Bein heben. Was er prompt tat. Es gelang mir jedoch, meine Hand ein wenig zu drehen, so dass ich einen besseren Griff bekam. Ich schaute ihm direkt in die
    Augen, und dann drückte ich zu, so fest ich konnte. Ich ließ seine Hand erst los, als er ein wenig verkniffen um den Mund wurde. Paul war, glaube ich, der Einzige, der unser kindisches Spielchen bemerkte. Und Cotter starrte mich mit einer eigenartigen Mischung aus Wut und Bewunderung an. Er rieb sich die Hand. Es kam mir fast vor, als versuche er, mir ins Gehirn zu kriechen, um herauszufinden, wie er mich am besten fertig machen könnte. Mir war klar, dass ich mir gerade einen Feind gemacht hatte, doch das war mir im Grunde egal. Aber was er dachte, hätte mich schon interessiert. Es war mindestens sechs Monate her, dass mir ein solcher Psychopath wie er über den Weg gelaufen war.
    Cotter ließ mich keine Sekunde aus den Augen. Ich wandte mich um, als ich Alyssum Tarcher sagen hörte: »Nun, Paul, jetzt da es Jilly wieder besser geht, können Sie sich ja wieder auf Ihre Arbeit konzentrieren. Ich verstehe, das alles war sicher ziemlich hart für Sie, aber nun kommt ja wieder alles in Ordnung.«
    »Ja«, pflichtete ihm Paul bei. »Jilly wäre auch gerne gekommen, aber sie schafft noch nicht mehr als ein paar Schritte. Als Mac und ich gingen, war sie kurz vor dem Einschlafen, und sie war sehr enttäuscht. Sie hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass sie nie absichtlich ins Meer rasen wollte. Sie hat einfach die Kontrolle über den Porsche verloren. Außerdem schwört sie hoch und heilig, nie wieder mit hundert Sachen in eine Kurve zu gehen. Ich soll alle von ihr grüßen.«
    »Na, Gott sei Dank«, sagte Alyssum Tarcher. Er nahm zwei Champagnerflöten vom Tablett eines vorbeigehenden Kellners und reichte eine davon mir, die andere Paul. Dann nahm er sich selbst eine, hob das Glas und sagte mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme: »Auf die Zukunft. Möge unser Projekt unsere wildesten Träume übertreffen.«
    »Darauf trinke ich«, sagte Paul.
    Weder Cotter noch ich sagten etwas, sondern nippten nur an unserem Champagner. Ekelhaftes Gesöff, hatte es noch nie gemocht. Sehnsüchtig musste ich an das Bierchen denken, das mir Midge mitten in der Nacht gebracht hatte. Ihr Mann Doug war ein Glückspilz. Ich stellte mein Glas auf das Tablett des Kellners zurück. Alyssum nahm es mit hochgezogener schwarzer Braue zur Kenntnis, aber das war mir schnurz.
    Paul sagte: »Das mit Charlie Duck ist eine richtige Tragödie. So was erwartet man in einem Städtchen wie Edgerton einfach nicht.«
    »Ja, eine wirklich schlimme Sache«, pflichtete ihm Alyssum Tarcher bei und nickte dabei würdevoll mit seinem Löwenhaupt. »Alle reden darüber. Jeder zerbricht sich den Kopf, wer so etwas Schreckliches machen konnte und warum.«
    »Er war ein neugieriger alter Knacker«, mischte sich Cotter grob ein.

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