Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
weiße Wolf kroch vorwärts, lautlos wie Schneefall, schob sich näher an die Prinzessin heran, die immer noch auf Sophie herunterlächelte, ohne etwas von der Gefahr hinter ihr zu ahnen.
»Sophie?«, sagte die Prinzessin und hielt ihr die behandschuhte Hand hin.
Der Wolf blieb stehen, schnüffelte in die Luft. Seine Augen funkelten blutrot vor dem weißen Schnee. Sophie sah jetzt, dass er hellgraue Flecken in seinem weißen Fell hatte. Oh, Grauwolf, der du … Aber das hier war ein echter, lebendiger weißer Wolf, nicht der alte Grauwolf aus dem Märchen. Und jetzt konnte sie auch nicht auf die beruhigende Stimme ihres Vaters zählen. Panik stieg in ihr auf, als sie sich klarmachte, dass das hier ein wildes Tier war, das sich nicht von irgendwelchen Geschichten weghexen ließ. Nein, dieser Wolf war ganz und gar sein eigener Herr.
Sophie konnte keinen Finger rühren, brachte keinen Ton heraus. Wie ein Blitzschlag traf sie die Erkenntnis, dass dieser Wolf den Wald in ganz anderer Weise wahrnahm, spürte, erlebte als sie selbst. Er konnte tief ins Dunkel hineinsehen, die Beschaffenheit des Schnees mit seiner Pfote ertasten, an der Tiefe der Eiskruste ablesen, wie lange der Winter dauern würde. Er konnte Viflijankas Schweiß riechen, ihrer aller Herzschläge hören und daraus folgern, wer von ihnen der langsamste Läufer, die leichteste Beute war. Aber er nahm diese Information nicht einfach nur auf, sondern er verwandelte alles um sich herum. Er war ein Teil der Welt, die er bewohnte. Und er schaute sie direkt an oder zumindest erschien es ihr so. Sophie fühlte sich zu ihm hingezogen, obwohl die Angst nicht von ihr abfiel.
Erst als Viflijanka nervös mit den Hufen aufstampfte, fand sie ihre Stimme wieder.
»Wolf!«, schrie sie. »Dort, im Wald!«
Warum liefen sie nicht weg? Warum standen Ivan und die Prinzessin nur da und starrten sie so merkwürdig an?
Das Gesicht der Prinzessin unter ihrem Nerzturban verriet keinerlei Überraschung, nicht die geringste Angst. Sie schüttelte nur den Kopf.
»Nein, Sophie.«
»Doch! Ich hab ihn gesehen!« Sophie setzte sich hastig auf, spähte wieder in den Wald hinein. Aber dort war nichts.
»Rein, sofort!«, brüllte Ivan.
»Aber Ivan!« Die Prinzessin versuchte sich aus Ivans Griff loszureißen. »Du weißt doch genau, dass da nichts im Wald ist. Wir haben sie alle.« Doch als Ivan sich nicht abschütteln ließ und weiter ihre Hand festhielt, fügte sie beklommen hinzu: »Oder etwa doch nicht?«
Hastig schlitterten sie zum Pavillon zurück. Ivan stampfte zu seinem Vozok hinüber und holte ein Jagdgewehr heraus.
»Los, rein mit euch!«
»Aber was ist mit Viflijanka!«, schrie Sophie.
Die Prinzessin stieß sie in den Rücken und Sophie purzelte in den Spiegelsaal hinein.
Marianne und Delphine klammerten sich aneinander fest, kreidebleich vor Schreck. Die Prinzessin schnallte ihre Schlittschuhe ab und schritt in dem Raum hin und her. Sophie zuckte zusammen, als zwei Gewehrschüsse die Stille zerrissen.
Ein paar Sekunden später stürzte Ivan zur Tür herein. Die Pelzmütze war ihm nach hinten gerutscht und sein Gesicht war totenblass. »Nichts«, behauptete er, obwohl er nach Atem rang, und zum ersten Mal sah Sophie Angst oder zumindest Besorgnis in seinen Augen.
Die Prinzessin nickte. »Ich hab’s ja gleich gesagt.« Dann zog sie Sophie zu sich hin. Ihre Finger bohrten sich in Sophies Arm. »Mach das nie wieder, hörst du?«
»Wieso? Was denn?«
»Du hast deine Freundinnen erschreckt.« Die Prinzessin redete so leise, dass Sophie die Ohren spitzen musste, um sie zu verstehen. »Es gibt hier keine Wölfe. Dafür haben wir gesorgt.«
»Aber ich hab doch genau gesehen …«
»Gar nichts hast du gesehen.«
Schweigend verzehrten sie ihr Picknick in dem kleinen Pavillon. Frisches Roggenbrot aus einer bestickten Serviette, kleine Schälchen mit Mixed Pickles, Teigtaschen mit Pilzfüllung, die Ivan piroschki nannte.
»Wir müssen jetzt gehen«, kommandierte die Prinzessin, sobald sie fertig gegessen hatten. »Ich lenke den Vozok.«
Das samtige, fast mit Händen zu greifende nördliche Licht hatte sich noch vertieft, während sie im Pavillon gepicknickt hatten. Die Birken traten deutlicher hervor und die Sterne standen tiefer am Himmel, berührten fast die höchsten Zweige.
Ivan half den Mädchen in den Vozok, dann streifte er die dicke Decke über Viflijankas stämmigen Körper. Das kleine schwarze Pferd schnaubte dankbar und peitschte mit dem Schweif.
»Hast
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