Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
Weile saßen sie schweigend da und schauten durch den Kronleuchter hindurch.
»Sie hat gesagt, ich darf nicht mit dir sprechen«, murrte Dimitri. »Das hat sie mir gesagt!«
Sie wechselten einen Blick, schauten aber schnell wieder weg.
»Ich weiß nicht, warum sie nicht will, dass wir miteinander reden«, murmelte Sophie und konnte ihm dabei nicht ins Gesicht sehen, weil es gelogen war. Sie wusste nur zu gut, warum die Prinzessin nicht wollte, dass sie mit ihm redete. »Schmutzig« hatte sie ihn genannt und das Wort in einem Ton ausgesprochen, der Sophie erschauern ließ. Nach einer Weile gab sie sich einen Ruck und schaute Dimitri wieder an. »Aber wir müssen es ihr ja nicht sagen, oder?«, wisperte sie. »Wir können doch miteinander reden, ohne dass sie es erfährt. Dann ist es eben unser Geheimnis.«
»Gibt viele Volkonski-Geheimnisse.« Dimitri nickte zustimmend. »Aber sie kommt nie dahinter.«
Wieder schwiegen sie. Dann holte Dimitri tief Luft. »Versprichst du mir, dass du Frau oben nichts sagst weiter, wenn ich dir Geheimnis verrate?«
Sophie nickte, obwohl ihr ein bisschen mulmig war. Die Prinzessin hatte gesagt, dass sie einander vertrauen mussten, okay. Aber Dimitri hatte etwas an sich, das stärker war als alle Versprechen, die sie der Prinzessin gegeben hatte.
»Es gibt ein Volkonski-Lied. Ich singe es für dich? Aber nicht für die Frau oben.«
Dimitri schaute sie an, als wisse er, dass er ihr jedes Geheimnis anvertrauen konnte, ohne dass sie es weitererzählte. Dann rezitierte er ganz langsam: » V glubinje vetschwrom, snjeg vypadajet, kak almazy. Volki pojut v lunnom swete .«
Sophie musste beinahe lachen. Dimitri konnte ihr gefahrlos jedes Geheimnis anvertrauen, solange er es auf Russisch sagte!
»Ich verstehe deine Sprache nicht«, sagte sie. »Tut mir leid.«
»Hast du diese Worte noch nie gehört?«
»Es klingt sehr schön«, murmelte Sophie, ohne zu wissen, wovon der Junge redete. »Aber ich lerne erst in zwei Jahren Russisch an meiner Schule.«
»Warum bist du dann hier?«
»Die Prinzessin hat uns eingeladen.«
Diese Antwort schien Dimitri zu verblüffen. »Aber warum? Warum drei Mädchen aus England? Was will sie von euch?«
Sophie versuchte sich die russischen Worte ins Gedächtnis einzuprägen. » Volki ? Hat das was mit Wölfen zu tun? Ivan hat uns erzählt, dass volkonski Wolf bedeutet.«
Dimitri nickte, lächelte zum ersten Mal. »Ich kann dir Worte auch auf Englisch sagen«, erwiderte er langsam, »aber ich verstehe nicht wahre Bedeutung.«
»Sag’s mir trotzdem«, bat Sophie. Etwas am Rhythmus der Sprache faszinierte sie, brachte eine Saite in ihr zum Klingen. Schönheit und Traurigkeit hörte sie heraus, obwohl sie keine Ahnung hatte, was die Worte bedeuteten. Und es war wunderschön, hier im Kerzenlicht zu sitzen und Dimitris Russisch zu lauschen. Wenn jemand Englisch mit ihr redete, achtete sie nie auf die Stimme oder den Klang der Wörter, sondern nur auf das, was gesagt wurde. Aber weil sie die Worte nicht verstand, hörte sie stattdessen darauf, wie Dimitri redete.
»In der Tiefe der Nacht«, wisperte Dimitri, »fällt Schnee wie Diamanten. Wölfe singen im Mondlicht. Wir nehmen Abschied.«
»Das ist schön«, sagte Sophie. »Aber auch traurig. Bei allem hier schwingt so viel Traurigkeit mit.«
»Sind Worte von Gedicht, von altem Lied, das sogar die Wölfe besänftigt, sagt man.« Dimitri lächelte wieder. Und dann begann er zu singen, einfach und schön. Seine Stimme, die so sanft war, wie Sophie es ihm nie zugetraut hätte, versagte am Ende der Strophe. Er holte Luft, nahm einen neuen Anlauf, glitt mühelos auf den Tönen dahin wie auf einem vereisten See.
Plötzlich stockte ihr der Atem. Sie kannte dieses Lied! Ihr Vater hatte es ihr vorgesungen, in dem Traum vom Winterwald. Oder nicht? Den Kopf zur Seite gelegt schaute sie auf den Kristallstrang und die Lichtblüten am Boden, während Dimitri sang und seine Stimme sich um den Kronleuchter wob. Sie sah ihre beiden Gesichter hundertfach in den Kristallfacetten gespiegelt, und ihr wurde klar, dass sie sich irren musste. Das konnte nicht sein. Woher sollte ihr Vater dasselbe Lied kennen wie Dimitri? Höchst unwahrscheinlich. Und trotzdem, auch wenn es vielleicht nicht das Lied ihres Vaters war, sondern nur das Echo einer anderen Melodie, eines konnte ihr niemand nehmen: Hier, unter diesen funkelnden Kristallsträngen, eingehüllt in Dimitris wehmütigen Gesang, fühlte sie sich zu Hause wie schon lange
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