Wo unsere Träume wohnen
Nordwesten, das sich nicht selbst reinigte. Da Doris sich ausschließlich von Suppe, Sandwiches und Mikrowellengerichten ernährt und Violet für das Gästefrühstück nur den Herd benutzt hatte, war der Ofen nur selten zum Einsatz gekommen. Und es würde Wochen dauern, bis Rudy die Geräte austauschen konnte. Daher kratzte sie die dicke Kruste ab, hielt die Luft an und hörte Rudy zu, der sich irgendwo in der Nähe ihres Hinterteils immer wieder für seine undankbare Tochter entschuldigte.
Schließlich zog sie den Kopf aus der Röhre, das Haar vermutlich voller Krümel, und sah ihn an. „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Es war eine dumme Idee, okay?“
Seine Augen verdunkelten sich so sehr, dass Violet sich lieber wieder in die Geborgenheit des Ofens zurückzog.
„Es war absolut keine dumme Idee“, widersprach er. „Es war eine schöne, großzügige, wunderbare Idee, und Stacey hatte kein Recht, sich so zu benehmen.“
Also tauchte Violet wieder aus ihrer Höhle auf und ging in die Hocke. Die Männer kapieren es einfach nicht, dachte sie.
„Sie hatte jedes Recht dazu. Ich hätte nicht vergessen dürfen, wie wichtig es gerade jetzt für Stacey ist, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Und wehe, Sie zwingen sie dazu, sich bei mir zu entschuldigen! Stacey und ich müssen unsere Beziehung ganz allein klären, ohne dass Sie sich einmischen. Jetzt gehen Sie, und lassen Sie mich mit meiner Scham alleine. Was denn?“, fragte sie wütend, als er nicht aufhörte, sie so anzusehen, dass sie es im ganzen Körper spüren konnte.
„Sie wussten genau, welches Risiko Sie eingehen, wenn Sie das Zimmer herrichten. Warum haben Sie es trotzdem gemacht?“
Genau das hatte sie sich jetzt schon hundert Mal gefragt. Violet wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab und merkte viel zu spät, wie schmutzig er inzwischen war. „Weil ich weiß, wie man sich in Staceys Situation fühlt, und mir gedacht habe … wenn ich ihr helfe, ihr ein wenig Privatsphäre verschaffe, ihr zeige, dass ich sie verstehe … dann würde sie …“
„Sie akzeptieren?“
Ihre Blicke trafen sich kurz, bevor sie antwortete. „Ich erinnere mich nur daran, wie es ist, sich nicht zurückziehen zu können und keine Zuflucht zu haben. Sich sicher fühlen zu können, ist wichtig für ein Kind.“
Langsam, um sie nicht zu verschrecken, beugte Rudy sich hinab und strich ihr den Schmutz von der Wange. „Das ist für jeden wichtig“, sagte er. „Was ist passiert, Violet?“
Sie versuchte zu lächeln, aber es funktionierte nicht. „Sie wissen doch, was passiert ist.“
„Vorher, meine ich. Als Sie selbst noch ein Kind waren.“
„Wie kommen Sie darauf, dass …“
„Nur so ein Gefühl.“
Violet sprang auf und füllte einen weiteren Bob-der-Baumeister-Becher mit Wasser. Ihre Hände zitterten. Sie hatte ihre Kindheit verarbeitet. Jedenfalls genug, um sich nicht allzu beschädigt zu fühlen. Sie brauchte kein Mitleid, schon gar nicht von Männern.
Sie trank den halben Becher aus. „Mein Dad ist gestorben, als ich noch klein war. Ich war ungefähr in Staceys Alter, da hat meine Mom wieder geheiratet. Das war hart für mich.
Mit zwölf, dreizehn ist das Leben ohnehin schon schwierig genug. Besonders für Mädchen.“
Rudy kniff die Augen zusammen. Polizistenaugen, dachte Violet. Sie sahen immer genauer hin als andere, waren wachsam und misstrauisch. In diesem Fall zu Recht. Und wenn schon. Sie hatte lange daran gearbeitet, das Wort „Opfer“ aus ihrem Wortschatz zu streichen. Zu lange, um sich einem Mann zu offenbaren, der sich für einen geborenen Beschützer zu halten schien.
„Also geht es nur darum, dass Sie nachfühlen können, was Stacey jetzt durchmacht?“, fragte er.
„Ja.“ Sie hielt seinem forschenden Blick stand. „Nur darum.“ „Blödsinn“, sagte er leise und ging davon.
„Könnt ihr beide nicht einfach verschwinden und mich in allein lassen?“, sagte Stacey über die Schulter zu den Jungen, die ihr zum Waldrand gefolgt waren.
„Was ist denn, Stacey?“, erwiderte George.
„Das geht euch nichts an!“, schrie sie und wirbelte herum. Julian erschrak und taumelte zurück. Bevor er hinfallen konnte, hielt sie ihn fest. Sie hasste sich dafür, dass sie sich so elend fühlte und alle um sich herum ebenso elend machte, aber sie wusste einfach nicht, was sie dagegen tun sollte. Dabei hatte sie schon ein wenig Mut gefasst, doch dann hatte sie die Stimme ihrer Großmutter gehört, und alles hatte wieder von vorn
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