Wo unsere Träume wohnen
nach, als sich Violet wieder in seine Gedanken schlich. Er sah sich selbst und sie beim Renovieren, wie er auf Violets Po und das lockige Haar starrte und an Stressabbau dachte – Stressabbau der ganz körperlichen Art.
Leider war das ein Problem, das sich nicht mit einer mitternächtlichen Fahrt zur Tankstelle lösen ließ.
„Hallo, Bruderherz“, riss Kevin Rudy aus seiner Trübsal. Er hatte Stacey und George zur Schule gebracht. Rudy blinzelt sich den Staub aus den Augen und stieg von der Leiter. Kevin hielt einen großen weißen Umschlag in den Händen und grinste.
„Was ist das?“
„Herzlichen Glückwunsch.“ Kevin reichte ihm den Umschlag. „Heute auf den Tag sind wir einen Monat hier und noch am Leben. Ich dachte mir, das verdient Anerkennung.“
Schmunzelnd nahm er die kitschige und erschreckend sentimentale Karte heraus, überflog sie und tippte seinem Bruder damit auf den Kopf. „Spinner. Aber im Ernst, ohne dich hätte ich das hier nie geschafft.“
„Dann haben wir ja beide Glück gehabt. Ich brauchte den Job hier nämlich.“
Rudy hatte darauf bestanden, Kevin für seine Arbeit zu bezahlen, zumal der das Geld dringend brauchte, um sein neues Leben zu beginnen. Wie immer das aussah.
„Wie lange bist du jetzt clean?“
Sein kleiner Bruder lächelte stolz und trug den Werkzeugkasten zum Heizkörper. „Fast neun Monate.“ Er wühlte nach dem richtigen Schraubenzieher. „Kein Schnaps, keine Drogen, nichts.“
„Wenn das kein Grund zum Feiern ist.“ Rudy widmete sich wieder der hartnäckigen Tapete. „Was hast du als Nächstes vor?“
„Als Nächstes?“
„Du willst doch nicht für immer hier abhängen.“
Kevin nahm die Verkleidung ab. „Ich verschwinde nicht, bevor die wichtigsten Reparaturen erledigt sind, falls du das denkst.“
„Das denke ich nicht. Aber ich bezweifle, dass du dich auf Dauer in der Provinz wohlfühlst. Nicht dein Stil.“
„Na ja, mein Stil hat sich in den letzten Monaten radikal geändert.“ Er zog eine Staubflocke heraus, die so groß wie eine Ratte war. Eine äußerst gut genährte Ratte. „Ich habe noch etwas zu erledigen. In Albuquerque. Da gibt es dieses Mädchen …“
„Warum wundert mich das nicht?“, murmelte Rudy.
„Ich habe sie kennengelernt, kurz bevor ich die Reißleine gezogen und den Entzug gemacht habe. Sie heißt Robyn, aber sie steckte noch tiefer im Sumpf als ich, und ich hatte Angst, dass sie mich runterzieht. Ich habe versucht, sie mit in den Entzug zu nehmen, aber sie wollte nicht.“
„Wie ernst war es zwischen euch?“
Kevin zog einen Mundwinkel hoch. „Ernst genug?“
„Liebst du sie?“
Rudys Bruder dachte kurz nach. „Nach allem, was du über Jackie erzählt hast, und nach dem, was Mitch Violet angetan hat, komme ich mir verdammt mies vor. Ich habe sie im Stich gelassen. Aber damals konnte ich nicht anders.“
„Du musstest erst mal dich selbst retten, Kev“, sagte Rudy sanft. „Du hattest gar nicht die Kraft, jemandem zu helfen. Zumal sie es anscheinend ja auch überhaupt nicht wollte.“
„Ich weiß. Trotzdem. Sie geht mir nicht aus dem Kopf. Ich habe angerufen, aber das Telefon ist nicht angeschlossen. Also dachte ich mir, jetzt, da ich wieder bei Kräften bin, sollte ich mal nachsehen, wie es ihr geht.“
Rudy legte die Stirn in Falten. „Hältst du das für eine gute Idee?“
„Keine Angst. Ich pass’ auf mich auf. Und ich gehe erst, wenn wir hier fertig sind. Soll ich mich an die Wand machen?“ Kevin zeigte dorthin, wo eine alte Kommode stand. Das Ding war so groß wie ein Panzer.
„Ja. Aber die Tapete reicht bis zum Boden. Du musst erst die Leisten abnehmen.“
„Kein Problem.“
Rudy wischte sich den Schweiß ab und ging in die Küche, wo Violet ständig für frischen Kaffee sorgte. Zu dieser Tageszeit war dort niemand, es sei denn, Violet half Kev und ihm beim Renovieren. Meistens ging sie nach dem Frühstück allerdings in ihre Wohnung oder machte mit Julian Besorgungen – mit anderen Worten, sie ging Rudy aus dem Weg. Doch als er dieses Mal hereinkam, saß sie am Tisch, die Post, einen Becher und eine offene Keksdose vor sich. Als sie ihn bemerkte, schloss sie die Dose und stopfte den Brief, den sie gerade gelesen hatte, in ihre zerschlissene Ledertasche.
Er brauchte nicht zu fragen, von wem der Brief war. Die Falte zwischen ihren Brauen sagte alles, obwohl sie nicht besorgt, sondern eher … nachdenklich wirkte.
Rudy ging zur Kaffeemaschine und goss sich einen großen Becher
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