Wodka und Brot (German Edition)
treffen …« Der Arzt schob den Paravent zur Seite und trällerte das Lied zu Ende, das wir begonnen hatten.
Er wandte sich an Gideon. »Und was ist mit Ihnen?«
»Schreckliche Kopfschmerzen.«
Der Arzt legte die Formulare zur Anamnese aufs Bett,betrachtete Gideon, bat ihn, die Schmerzen zu beschreiben, die Häufigkeit, die Stelle und die Dauer der Anfälle. Er erkundigte sich auch nach seiner Arbeit, und Gideons Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen.
»Rechtsanwalt«, antwortete ich an seiner Stelle, und er riss sich zusammen und sagte: »Fischer.«
»Entscheiden Sie sich, Rechtsanwalt oder Fischer?« Der Arzt beugte sich zu Gideon und leuchtete ihm in die Pupillen.
Wir antworteten gleichzeitig. »Fischer.« »Rechtsanwalt.«
»Hören Sie, wenn Sie Fischer sind, haben Sie vielleicht eine Karpfionitis, und als Rechtsanwalt könnte es eine Juristotitis sein«, sagte der Arzt, er war der Einzige, der darüber lachte. Er kontrollierte die Reflexe an den Ellenbogen und an den Knien und befahl Gideon, die Augen zu schließen und mit dem Zeigefinger seine Nase zu berühren. Der gerade Rücken des Arztes und seine ruhige, selbstsichere Sprechweise machten den Eindruck, als führe er ein gutes Leben, als stammten seine Ruhe und sein Humor aus psychischer und vermutlich auch materieller Wohlhabenheit. Er war nicht mehr jung, aber gut erhalten, einer von jenen Männern, von denen man nicht sagen konnte, ob sie fünfundvierzig oder achtundfünfzig sind, aber was hatte er mit uns zu tun, er war er, und wir waren wir.
»Und Sie?«
»Was ist mit mir?«
»Was arbeiten Sie?«, fragte er, während er die Drüsen an Gideons Hals abtastete.
»Ich arbeite in einem Lebensmittelladen, und ich habe keine Laditis, Herr Doktor, mir tut nichts weh.«
»Sie ist Unternehmensberaterin«, sagte Gideon, als der Arzt seinen Hals losließ.
»Sagen Sie, kennen Sie einander überhaupt oder haben Sie sich hier getroffen?« Der Arzt lächelte, wurde wieder ernst und notierte etwas in den Anamnesebogen. Bevor er uns seine Vermutung und Anweisungen zum weiteren Vorgehen gab, fragte er: »Also, was ist das für eine Geschichte mit doppelten Berufen, Fischer oder Rechtsanwalt?«
»Rechtsanwalt, der sich eine Auszeit genommen hat und zum Fischen gegangen ist«, sagte ich, und Gideon schloss die Augen, er hatte das Interesse verloren.
»Warum eine Auszeit? Stress? Druck?«
»Leere«, brachte Gideon mühsam heraus und hielt sich mit gespreizten Fingern die Stirn.
Der Arzt warf ihm einen forschenden Blick zu, als hätte die Leere eine Bedeutung für die Diagnose. Wie zu viel Kalium oder Kreatinin. Er schaute ihn an, dann mich, als wäre ich die Überträgerin eines Virus, das ihn erwischt hatte. Und weil er mich anschaute, schaute auch ich mich an, sah mein ausgeblichenes T-Shirt, das ich normalerweise zu Hause trug, das ich aber nie draußen tragen würde, auch wenn wir mit Raketen beschossen werden, ich sah meine abgewetzten Jeans, mit denen ich sonst im Garten arbeitete, meine abgetragenen Flipflops, meine Fingernägel, die dringend geschnitten gehörten. Gideons graues T-Shirt machte keinen besseren Eindruck, seine Bermudas waren ebenfalls abgewetzt, und er trug Gummisandalen. Es war mir peinlich. Im Bett nebenan lag ein alter Mann, gelb und schwitzend, mit eingefallenen Wangen und tief in den Höhlen liegenden Augen. Eine Frau saß bei ihm, ihre ausgetrocknete, knochige Hand mit den alten Fingern ließ seine Schulter nicht los. Ihre Kleidung, die vermutlich vor meiner Geburt genäht worden war, machte ihnen offenbar nichts aus.
Sie hatten es also überlebt, diese lebenswichtige Last, die man Familie nennt, ein Paar, ein Ehepaar, sie waren schon jenseits der Lust und der Feindschaft, der Rache und der Begierde, am Ende ihrer Tage hielten sie sich an den Händen. Wenn dieser Arzt einen Blick auf ihre alten Hände werfen würde, würde er sehen, dass sie zitterten, und er würde den Parkinson erkennen, er würde sehen, dass die Fingernägel blau verfärbt waren, und wissen, dass sie zu wenig Sauerstoff im Blut hatten, doch wenn er sich Zeit nahm und sie länger betrachtete, würde er auch ihre Berührung wahrnehmen. Aber der Arzt war in Gideon vertieft. »Hören Sie«, sagte er, »vorläufig scheint es ein schwerer Migräneanfall zu sein. Ich werde Ihnen eine Spritze gegen die Schmerzen geben und Sie nach Hause gehen lassen. Wenn Sie in ein oder zwei Tagen einen erneuten Anfall bekommen, sollten Sie nochmals kommen, und dann werden wir
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