Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
Vom Netzwerk:
sein lässt – gleich das Erste, was ihm in den Sinn kommt: »Sie laufen gerne?« Er kann das Zucken, das sich seines Gesichtes bemächtigen will, kaum unterdrücken.
    »Ich laufe jeden Morgen.«
    »Und das gefällt Ihnen?«
    Mit der Andeutung eines Stirnrunzelns und einem brüsken Kopfschütteln antwortet sie: »Danach fühle ich mich besser.«
    Seine Hand will zu seiner Stirn wandern, um die Delle dort zu berühren, aber er stoppt sie im letzten Augenblick, weil er ihre Aufmerksamkeit nicht auf die Verletzung lenken will. So hängt die Hand in der Luft, als wollte er sie nach ihr ausstrecken.
    Ihre Hand umklammert die seine wie eine Falle, ein überraschend starker Griff. Sie glaubt, er will ihr zum Abschied die Hand anbieten. Für ihren Fehler ist er so dankbar, dass es aus ihm herausplatzt: »Aufs Haus!«
    Sie lässt seine Hand los und schaut mit überraschter Miene zum Dach. »Was?«
    »Ich.« Er kauert sich auf den Boden und sammelt sein Werkzeug ein. In der Ferne grollt Donner. »Der Service, meine ich. Das Aufschließen der Tür.«
    »Oh. Jetzt haben Sie mir aber einen Schrecken eingejagt.« Sie lacht nervös auf und legt sich die Hand an die Brust. »Ich dachte, Sie meinen – sind Sie sicher? Ich bezahle Sie gerne. War ja schließlich selber schuld.« Ihr Lächeln verschwindet. »Mein Mann.«
    Er klappt den Deckel zu, lässt die Schnallen einrasten und steht auf. Das Gewicht des Werkzeugkoffers zieht ihn seitlich nach unten. »Ich würde mir blöd dabei vorkommen.«
    »Aber warum denn? Das ist doch Ihr Geschäft.«
    »Ist mir ein Vergnügen.« Er nickt ihr zu, bevor er die Stufen hinunterpoltert und in den Regen läuft, wo er mit dem Daumen über die Zacken des frisch gefeilten Schlüssels fährt und ihn dann in die Tasche steckt.
    Der Regen wird stärker und macht aus der Welt ein einziges graues Element. Dicke Schlammzungen lecken über die Straße. Vom Wind gepeitschte Äste kratzen über die Scheiben. Im Herbst passiert immer das Gleiche. Der ausgedörrte gelbe Sommer weicht einem plötzlichen Grau, wenn der Sturm über die Cascades kriecht und Säcke voller Wasser aus dem Pazifik mit sich bringt.
    Was bedeutet, dass das vernichtende Weiß des Winters viel zu schnell kommen wird. Wie er den Winter hasst. In der Kälte schmerzt alles mehr. Ein Fingernagel, der an einem vorstehenden Schraubenkopf hängen bleibt. Ein Knie, das man sich auf einem vereisten Bürgersteig anschlägt. Ein Knöchel, der beim Reifenwechsel über den Asphalt schürft, so dass man den Halt am Kreuzschlüssel verliert. Sein Kopf. Vor allem sein eingedellter Kopf.
    Er stellt sich das Innere seines Körpers als Höhle vor, durch die ein roter Fluss fließt, und wenn die Temperatur sinkt, verdichtet sich der Fluss zu einer roten Eisströmung, und rote Eiszapfen hängen in jedem Winkel seines Inneren, so dass, wenn er gegen etwas stößt oder ihn etwas anstößt, das Eis bricht und die Eiszapfen stechen. Und in einem Ort wie Bend, wo der Winter mehr als fünf Monate den Himmel verdüstert und die Straßen einfriert, gibt es viel, was schmerzen kann.
    Heute fühlt es sich an, als würden die Schmerzen anfangen, eine pochende Mahnung an Bevorstehendes. Noch bis zum Abend gilt die Warnung vor heftigen Gewittern und Starkregen. Die Temperatur liegt bei etwa fünfzehn Grad, im Wind fühlt es sich aber eher an wie zehn. Acht Zentimeter Regen sind bereits gefallen – und fünf sollen noch kommen, bevor der Sturm ins östliche Oregon weiterzieht, wo er immer mehr an Kraft verlieren und sich über der Wüste auflösen wird.
    Das alles hört er, als er sich durch die Radiosender schaltet – überall die aufgeregten Stimmen von Wetteransagern, die über wechselnde Luftdruckfronten, Windrichtungsmuster, Oberflächentemperaturen und Taupunkte reden – unterbrochen von süßlichen Popsongs. Nichts über den Irak. Darüber kommt nie was.
    Er berührt die Delle in seiner Stirn. Sie hat angefangen zu pochen, als hätte ein Puls das gesamte Blut seines Körpers dort konzentriert. Im Augenwinkel sieht er ein Aufblitzen, das er zuerst für einen Himmelsblitz hält. Es folgt aber kein Donner. Und das Blitzen – ein weißes Blitzen, das am Rand des Gesichtsfelds aufleuchtet und wieder verlöscht – geht weiter und wird schlimmer. Er steuert mit einer Hand und reibt sich mit der anderen die Delle, versucht, den Druck dort zu lindern, versucht, an etwas Angenehmes zu denken – an die Frau, Karen –, aber der Regen und die kurvige Straße und sein Kopf,

Weitere Kostenlose Bücher