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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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ganz durch sein System gekrochen, deshalb nimmt er sich einen Augenblick, um sich zu räuspern und sich in der Welt der Menschen zu orientieren, die von diesem dichten Waldstück und dem rauschenden Wasser so weit entfernt scheint.
    »Hier Brian von Pop-A-Lock Schlüsseldienst und Schlosserei.«
    Er ist nur knapp einssechzig groß, aber seine Springerstiefel lassen ihn ein wenig größer wirken. Er trägt eine schwarze Jeans und eine passende Jeansjacke. Sein Gesicht ist kantig, seine Augen groß und fast unheimlich türkis, seine Mundwinkel sind immer nach unten gezogen, sodass er aussieht, als wäre er beständig mürrisch oder beunruhigt. Er trägt die Haare kurz und hoch ausgeschnitten – eine Gewohnheit, die er aus seiner Militärzeit behalten hat –, und das lenkt die Aufmerksamkeit auf die Delle in seiner Stirn, eine rötliche, untertassenförmige Stelle, die aussieht wie ein mit Haut überzogenes drittes Auge. Er hat die nervöse Angewohnheit, den Rand immer mit dem Finger nachzufahren, so auch jetzt, als er merkt, dass die Stimme am andern Ende der Leitung einer Frau gehört.
    Ihr Name sei Karen – sie käme sich so dumm vor, sie wisse, sie sollte draußen irgendwo einen Schlüssel verstecken –, ihr Name sei Karen und sie sei eben vom Joggen zurückgekommen und habe die Tür verschlossen vorgefunden. Es wäre ihr Ehemann gewesen, der Idiot. Sie könne nicht glauben, dass er ihr das angetan habe. Manchmal treibe er sie zum Wahnsinn. Jetzt sei sie im Haus einer Nachbarin. Sie müsse bald in die Arbeit. Sie bitte Brian, sich zu beeilen, falls er könnte.
    »Ich kann«, entgegnet er ihr, »aber ich bin mitten in einer anderen Arbeit.« Er fragt sich, ob sie das klare Rauschen des Wassers hören kann und den Wind, der in den Kiefern seufzt. »Sobald ich fertig bin, komme ich gleich zu Ihnen. In zwanzig Minuten vielleicht?«
    Sie nennt ihm die Adresse. »Ich bin gleich gegenüber, ich sehe Sie als o, wenn Sie in die Einfahrt fahren.« Sie kommt von irgendwo anders her, das weiß er. Ihre Stimme ist flach, ohne die knappen Konsonanten und die gedehnten Vokale, diesen fast brutalen Rhythmus, der die Sprache der Einheimischen charakterisiert. Wegen des leichten Ploppens, das ihre Lippen am Ende eines Satzes machen, stellt er sich vor, dass sie Lippenstift trägt. Eine Frau, die beim Joggen Lippenstift trägt. Vielleicht ist das der Grund, warum er den Biber in der Falle hängen lässt, denn er weiß, das Wasser, das vom Gletsche r kommt, wird den Kadaver bis zu seiner Rückkehr konservieren.
    Sein Auto steht am Rand einer Forststraße westlich der Stadt. In schwarzen Blockbuchstaben steht der Name der Firma an den Flanken seines Ford F-10, zusammen mit ihrem Motto: »Wer hat Ihre Schlüssel?« Die Prospekte zeigen seinen Vater – glatt rasiert und muskulös, jemand, den Brian kaum erkennt –, wie er einer blonden Frau und ihrem blonden Sohn frisch gefräste Schlüssel überreicht. Alle lächeln, weil sie wissen, das Haus ist jetzt sicher, eine Festung. Keiner wird eindringen. Das ist es, was Pop-A-Lock mehr als alles andere herausstreicht: Angst und Vertrauen.
    Ihre Kunden sind im Allgemeinen neue Hausbesitzer, die befürchten, dass ein früherer Hausbewohner eines Nachts seinen alten Schlüssel ins Schloss steckt und merkt, dass er noch gut passt, so dass er geräuschlos das Haus betreten und Schmuck und Tafelsilber mitnehmen und dann vielleicht mit einem Messer in der Hand und einem Grinsen auf dem Gesicht sein früheres Schlafzimmer betreten kann. Oder jemand findet seine Schlüssel nicht mehr und befürchtet, dass sie gestohlen sind. Oder jemand schließt sich aus seinem Auto oder seinem Haus aus und hat keinen Ersatzschlüssel unter dem Geranientopf versteckt. Brian macht Schlösser und überwindet Schlösser.
    Er dreht den Zündschlüssel und fährt den Pick-up über ein Netz von unbefestigten Waldwegen, das in breitere Schlackewege übergeht und schließlich in asphaltierte Durchgangsstraßen mündet. Der Regen beginnt zögerlich, nur wenige dicke Tropfen klatschen auf die Windschutzscheibe und prasseln aufs Autodach, und es vergehen so viele Sekunden dazwischen, dass es klingt wie eine Unterhaltung, die ihren Rhythmus nicht so recht finden will. Doch plötzlich wirkt die Welt von einem Augenblick auf den anderen wie aus Wasser gemacht.
    Brian bremst auf vierzig Meilen ab. Er schaltet die Scheinwerfer ein. Er dreht das Gebläse auf, um den Dunst zu vertreiben, der sich auf die Fenster legt. Seine

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