Wölfe der Nacht
das Pfeifen eines Zugs, die Fehlzündung eines Autos, eine Dynamitexplosion bei einem Bauprojekt auf einem Hügel. Er schaute sich die Unterseiten von Brücken und Überführungen sehr sorgfältig an, wenn er unter ihnen hindurchfuhr, suchte nach den Sprengsätzen, von denen er wusste, dass sie nicht da waren. Wenn in der Einkaufspassage oder auf dem Bürgersteig ihm jemand schnell entgegenkam, stellte er sich vor, wie er demjenigen zuerst gegen die Luftröhre schlug und ihn dann zu Boden warf, um ihn zu fragen, warum er es so eilig habe.
Kein Mensch fragte ihn je nach dem Krieg. Kein einziger Nachbar, kein einziger Freund oder früherer Lehrer, nicht einmal, wenn sie ein »Support Our Troops«-Band am Revers oder an der Stoßstange hatten. Sie sagten nur: »Gut, dass du zu Hause bist.« In solchen Augenblicken, vor allem, wenn sie seine Stirn anstarrten – zuerst den Verband, später das Narbengewebe, das Kaugummi-Rosa –, fühlte er sich dem Zusammenbruch nahe. Allein. Untauglich. Kein Teil des Irak, kein Teil Oregons. Kein Marine und kein Zivilist – nur ein Gefäß voller Blut und Knochen und Knorpeln, das durch die Luft taumelte. Lange Zeit fühlte er sich nicht in der Lage, wieder ein normales Leben zu führen, in irgendetwas Trost zu finden. Er hatte das Gefühl, mehr verloren zu haben als nur dieses Stück seines Schädels. Er hatte sich auch selber verloren.
Er gibt seinem Stirnlappen die Schuld. Er erinnert sich, wie die Ärzte ihm von der spinnenförmigen Läsion dort erzählten. Sie war der Grund, warum er anfangs solche Schwierigkeiten hatte, Worte aneinanderzufügen, Rechenaufgaben zu lösen und eine Erektion aufrechtzuerhalten. Sie war der Grund, warum sein Gesichtsausdruck sich kaum veränderte, seine Miene versteinert, fast wie tot war. Es gab ein gewisses Taubheitsgefühl, als hätte jemand einen Nerv in seinem Körper entfernt. Er erinnert sich, wie er in den ersten Wochen nach seiner Entlassung in einem Shari’s Restaurant saß, Kaffee trank und einen Erdbeerkuchen aß und eine Mutter mit Kind – ein rundgesichtiges Baby mit dichten schwarzen Haaren – sich in die Nachbarnische setzte. Als das Baby eine grüne Kreide zerbrach und untröstlich zu weinen anfing, musste er bei diesem schrillen Heulen an eine Luftalarm-Sirene denken und er stellte sich vor, wie er den Schädel des Kleinen gegen die Tischkante schlug, bis er aufplatzte und eine rote Masse herausquoll, die nicht viel anders war als die seines Kuchens. Er war sich nicht sicher, was er in diesem Augenblick empfand, während ein halb gekauter Bissen Erdbeere auf seiner Zunge schmolz. Wut? Nein. Wut war ein Wort mit zu viel Oktan darin. Er spürte einfach nur den Impuls zuzuschlagen. Das war die bessere Art, über sein Hirn und seine Neuverdrahtung nachzudenken, es als etwas zu betrachten, das auf Impulse reagierte. Er wusste, dass er nicht normal war. Er wusste, dass die Leute ihn hassen würden, würden sie seine Gedanken kennen. Er wusste, er sollte sich schuldig fühlen, sollte bedauern, wie er auf das Kind reagiert hatte und auch die tausend klei nen Albträume, die ihm jeden Tag durch den Kopf gingen. Aber er tut es nicht.
Er erinnert sich an eine Zeit, als noch nicht alles so düster wirkte, als Leben strahlend schien vor Schönheit und vor den Möglichkeiten, die es bot. Er erinnert sich, wie er in seinem Wüsten-Kampfanzug in einer Curtis Commando Transportmaschine saß –, unterwegs von Rumänien, wo sie aufgetankt hatten, nach Mosul – und er zum Fenster hinausschaute und hinter den sanft wogenden grünen Hügeln und den funkelnden Seen die verschneiten Karpaten sah und sich völlig lebendig fühlte und verbunden mit den zweihundert Männern um ihn herum, denen allen Grauen und Frustration bevorstand und die füreinander sterben würden.
Dieses Gefühl ist für ihn inzwischen unerreichbar. Er fühlt sich nicht mehr als Teil von etwas, er fühlt sich abgesondert. Er passt am besten in den Wald.
Manchmal fährt er in die Wüste hinaus und parkt im Schatten einer Lärche oder eines Monolithen, dessen Umriss an ein fossiles Tier erinnert. Wenn er dann in seinem Pick-up sitzt und das Land sich um ihn herum ausbreitet, wenn er den Wind durch die Canyons rauschen und in Beifußbüscheln flüstern hört, wenn er die Sonne in den Himmel steigen und die Farbe aus den Steinen und die Feuchtigkeit aus der Erde brennen sieht, wenn eine Gruppe Ameisen einen toten Grashüpfer in ihr wimmelndes Nest trägt, wenn ein Falke aus dem
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