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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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Leuchtspurmunition durch den nächtlichen Himmel raste. »Wie krank seid ihr, ihr Hurensöhne?« hatte ein Lieutenant sie bei ihrem zweiten Einsatz gefragt. »Krank. Wir sind kranke Hurensöhne, Sir«, hatten sie geantwortet. »Wir bluten grün. Marines bis ins Mark.« Alle hatten sie das Emblem aus Adler, Erdkugel und Anker in Schwarz auf die linke Schulter tätowiert.
    Als die Kellnerin kam, um sie zu fragen, ob sie noch einen dritten Krug wollten, war Brian der Letzte, der Ja sagte.
    Sein ganzes Leben lang lebte er schon in diesem Haus – einer Ranch mit drei Schlafzimmern, einem Kamin aus Lavagestein und einer mit roter Schlacke bestreuten Einfahrt – in Deschutes River Woods, einer dicht bewaldeten Siedlung am Stadtrand. Hier gibt es keine Straßenlaternen. Nur die Sterne blinken am Himmel und der Mond starrt durch die Bäume wie ein narbiges Auge aus einer anderen Welt. Einen Augenblick lang steht Brian in der Einfahrt, damit seine Augen sich anpassen können, und läuft dann in den nahen Wald.
    In so vieler Hinsicht scheint ihm ein Netzhautnerv zu fehlen, der es ihm ermöglichen würde, die Welt so zu sehen wie andere. Er weiß, dass die meisten Menschen mitten im Wald und mitten in der Nacht eine gewisse Angst verspüren. Er nicht. Eher fühlt er sich getröstet von der schwarzen Einsamkeit, die der nächtliche Wald ihm bietet. Wenn man gesehen hat, was er gesehen hat, wenn man weiß, dass in einer anderen Welt die Menschen ins Einkaufszentrum gehen und Frisbees werfen und Kaffee in einem Straßencafé trinken, akzeptiert man irgendwann, dass alles, wovon man glaubte, dass es einen Sinn hat, keinen Sinn hat.
    Eine Eule schreit. Der Wind lässt sie wieder verstummen. Der Mond scheint auf einem hohen Randfelsen zu ruhen. In sein blaues Licht getaucht, sieht die Welt aus wie von Wasser überspült. Er läuft zwischen den Bäumen hindurch, schiebt Äste beiseite, weicht Wurzeln aus, springt über gefallene Stämme und landet auf allen vieren und bewegt sich so ein Stück weiter, bevor er sich wieder aufrichtet. In sich spürt er einen dunklen Wind wie von einem kalten Blasebalg.
    Seine Stiefel knirschen durch die sandige Erde und stoßen gegen furchigen Basalt im Takt seines Herzens, während er sich nordwärts bewegt und sich an den Sternen und den blau getönten Bergen orientiert, die immer wieder durch die Bäume blitzen. Und der Mond, immer der Mond, folgt seinem Weg.
    Im Book of Kells, im hinteren Eck ihrer Nische, schwitzte sein Glas und er wischte die Feuchtigkeit mit dem Daumen weg. Als er das Glas hob und an die Lippen führte, hinterließ es auf dem Tisch einen Ring, ein feuchtes Auge, das ihn durch die Holzmaserung anstarrte. Er fragte sich, was es wohl sah, was sie sahen, wenn sie ihn anschauten und in ihr Gespräch mit einbeziehen wollten. Sie fragten ihn, ob er vom Krieg träume, und er antwortete: »In manchen Nächten.« Sie fragten ihn, ob er sich erinnere, wie Eugene sich einmal ein Papierhandtuch in den Arsch gesteckt und es angezündet und den Tanz des brennenden Arschlochs aufgeführt habe. »Ja«, antwortete er nach einem großen Schluck Bier. »Ich erinnere mich.« Sie versuchten, ihn aufzumuntern, ihm ein gutes Gefühl zu vermitteln. Aber er gab ihnen rein gar nichts zurück, und so hörten sie nach einer Weile auf, ihm Fragen zu stellen, schauten ihn nur hin und wieder mit zugleich besorgten wie verärgerten Blicken an. Er ruinierte ihnen den Abend. Es sollte doch eine Zeit sein, in der sie in ihren Geschichten und ihren bodenlosen Gläsern ein gemeinsames Heilmittel fanden.
    Er fragte sich, ob der Krieg sie überhaupt noch quälte, ob sie sich von ihm beschädigt fühlten. Dave hatte Schrapnelle im Bein. Jim war auf dem rechten Ohr taub. Aber ansonsten schien es ihnen gut zu gehen. Sie wirkten wie Männer, die ihren Hunden beibrachten, sich auf dem Boden zu wälzen, die im Supermarkt die Etiketten der Gläser mit Spaghettisauce lasen und den Löwenzahn im Garten mit Werkzeugen ausstachen, die speziell für diesen Zweck verkauft wurden. Er fragte sich, ob sie sich wohl und sicher fühlten, glücklich. Er fragte sich, ob sie einen Vorrat an Zoloft und Trazodone in ihren Medizinschränkchen hatten. Er fragte sich, ob sie überall im Haus Waffen versteckt hatten – hinter dem Tafelsilber, neben der Zahnpasta, zwischen Matratze und Lattenrost. Er fragte sich, ob sie je ihre Erinnerungen mit einem Sechserpack Bud und Gläsern voll Jim Beam betäubten. Er fragte sich, ob sie je mitten in der

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