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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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Augenhöhle, bevor sie wieder davonfliegt.
    In diesem Augenblick scheint die Welt stehen zu bleiben. Die Motte fliegt nicht mehr, steht wie erstarrt mitten in der Luft. Ein von der Brise gebogener Ast versteinert. Ein von einem anderen Ast fallender Kiefernzapfen hängt bewegungslos in der Luft, und ein steifes Eichhörnchen sieht zu, wie er nicht fällt.
    Justin spürt einen faustgroßen Druck in der Brust, denn er hat die Luft angehalten. Mit einem Keuchen verschwindet der Druck, und die Welt löst sich aus der Starre, nimmt ihren Fluss wieder auf, während die Motte davonfliegt und der Kiefernzapfen zu Boden kracht.
    Und dann rennt er. Er rennt und schafft wahrscheinlich fünfzig Meter, bevor er stehen bleibt und seine Beherrschung wiederfindet und seine Atmung sich beruhigt und er langsam zur Quelle zurückkehrt. Er hat einen Geschmack wie salzige Pennies im Mund, und er merkt, dass er sich in die Wange gebissen hat. Er schluckt das Blut und ruft seinen Vater. Und dann noch einmal, bevor eine Stimme aus dem Lager schwach antwortet: »Was ist?«
    »Du musst herkommen. Komm sofort hierher.«
    Anscheinend hat irgendwas in seiner Stimme seinen Vater beunruhigt, denn einen Augenblick später hört Justin ein Krachen im Wald und dann neben sich Atmen. Boo will weiterlaufen, aber sein Vater packt ihn am Halsband, bevor er die Skelettreste durcheinanderbringen kann.
    »Das ist übel.« Er trägt eine John-Deere-Kappe mit abgenagtem Rand. Jetzt nimmt er sie ab und starrt in die Höhlung. »Das ist eine verdammt schlimme Sache.« Er sieht aus wie ein Mann, der aus einem Nickerchen aufgewacht ist und nicht weiß, wo er ist.
    Justin zieht sein Handy aus der Tasche und schaltet es ein. Es springt piepsend an, und das Display leuchtet grünlich. Keine Überraschung: Hier gibt es kein Netz, sie sind viel zu weit vom nächsten Sendemast entfernt. »Wenn wir hinauf auf den Canyonrand fahren«, sagt er. »Wenn wir ein bisschen höher sind, bekomme ich vielleicht ein Signal. Einen Versuch wär’s auf jeden Fall wert.«
    »Nein.« Sein Vater setzt die Kappe wieder auf und schiebt sie zurecht.
    »Wie bitte?«
    »Nein.«
    »Er ist tot.«
    »So was kommt vor. Menschen sterben.« Er hebt die Hand und lässt sie klatschend auf den Oberschenkel fallen. »Ich sag dir eins: Er hat’s nicht mehr eilig.«
    Justin versteht das überhaupt nicht. »Dad?«
    »Nein.«
    Seine Miene wirkt besorgt, aber Justin ist überzeugt, das hat mehr damit zu tun, dass sie ihren Jagdausflug abbrechen müssten, als mit dem toten Mann, der da vor ihnen liegt. Sein Vater legt ihm die Hand auf die Schulter und drückt gerade so fest zu, dass Justin versteht, er meint es ernst.
    »Schau. Ist doch zu einem wunderschönen Tag geworden, nicht?« Und er hat recht – es ist wirklich ein schöner Tag –, ein Tag von einem so strahlenden Blau, dass alles seine Farbe verliert. »Wie wär’s, wenn wir ihn genießen?« Er betrachtet den Toten, und Justin bemerkt, dass seine Wange sich aufwölbt, weil er mit der Zunge dagegendrückt. »Ist wahrscheinlich an einem Herzinfarkt gestorben. Dagegen kann man nichts mehr machen. Wenn wir morgen Abend aufbrechen, dann fahren wir nach John Day und melden es der Polizei. Aber nicht heute.«
    Sein Vater lässt Boo los, und der kriecht auf den Toten zu, den Körper dicht am Boden, alle Muskeln angespannt, als erwarte er, dass dieser geschwärzte Haufen Knochen jeden Augenblick aufspringt und ihn angreift. Als er es nicht tut, entspannt er sich und fängt fröhlich an zu japsen und watet in die Quelle, um zu saufen.
    »Okay, Justin?«
    Justin schaut seine Füße an – was er manchmal tut, wenn er nachdenkt – und entdeckt dort eine verwitterte Packung Marlboros, die Zigaretten, die diesen Toten nicht schnell genug töten konnten. Daneben liegt etwas Glänzendes. Es sieht aus wie eine schlammverkrustete Murmel. Vor gedankenloser Neugier hebt Justin es auf und wischt den Staub ab und dreht es um. Eine wässerig grüne Pupille starrt ihn an. Ein Auge – das erkennt er jetzt – ein Glasauge. Es hat einen Sprung, vielleicht hatte ein Kojote es zwischen den Zähnen oder eine Krähe pickt darauf herum, um es aufzubrechen. Als er angewidert aufschreit und das Auge fallen lässt, prallt es ein paar Mal vom Boden ab und bleibt dann so liegen, dass die Pupille nach oben schaut. Ohne Fleischtasche, in die es sich zurückziehen könnte, blinzelt es nicht, sondern schaut für immer wachsam.
    »Justin?«, sagt sein Vater noch einmal, mit ruhiger

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