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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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Stimme, als würde er das alles nicht ungewöhnlich finden.
    Justin wischt sich die Hände an seiner Hose und wünscht sich eine Handvoll Seifenlauge. »Okay«, hört er sich mit einer Stimme sagen, in der er die Stimme seiner Kindheit wiedererkennt. »Gut.« Das ist es, was seine Frau gemeint hat, das begreift Justin jetzt, die Fähigkeit seines Vaters, ihn in jede Form zu biegen, die er will. Justin ist derart daran gewöhnt, seinen Anweisungen zu folgen, dass er nicht daran denkt, eine so grausige Entscheidung in Frage zu stellen, und wenn, dann höchstens ganz für einen Moment, winselnd.
    Sie verstummen und stehen eine Weile nur nebeneinander. So wie sie hier stehen, mit steifen Rücken, müssen sie aussehen, als wären sie selbst Teil des Waldes, eine gestutzte Baumgruppe. Schließlich schiebt Justin mit dem Fuß Erde über das Auge. Das Gefühl, beobachtet zu werden, nimmt dadurch nicht ab, wie er es erhofft hatte. Das Gefühl von letzter Nacht fällt ihm wieder ein, und er stellt sich vor, wie das Auge auf der mondhellen Wiese auf ihn zurollt.
    Schließlich kommt aus der Ferne das Geräusch einer Hupe, ein Holzlaster, der über einen entfernten Highway donnert, und das erinnert ihn daran, dass man, auch wenn man sich hier fühlt wie mitten in tiefster Wildnis, es nicht ist.
    Als sie ins Lager zurückkehren, schaut Justin nach Graham, der noch im Zelt liegt. Er starrt ausdruckslos das Zeltdach an, seine Brust hebt und senkt sich, er keucht schwach. Inzwischen hat die Sonne die dunkle Leinwand durchtränkt, die Luft ist warm und feucht, und er kommt sich vor, als hätte er einen Mund betreten.
    »Graham?«
    Sein Sohn hebt den Kopf, um Justin mit Augen anzuschauen, die rot gerändert und wässerig sind.
    »Alles okay mit dir?«
    »Ich glaube, ich brauche meinen Inhalator.« Seine Stimme klingt verwaschen, ein Hinweis auf mangelnde Sauerstoffversorgung.
    Justin wühlt in seinem Rucksack und findet das Albuterol neben Zahnbürste und Seife. Er gibt es seinem Sohn, der sich aufsetzt und den Inhalator schüttelt und tief einatmet, als die Lösung in seinen Mund zischt. Er lässt den Brustkorb gebläht und behält die Medizin dreißig Sekunden in der Lunge, bevor er sie mit einem atemlosen Keuchen wieder ausatmet.
    Justin reibt ihm den Rücken. »Besser?«
    Er nickt und sprüht sich dann noch eine Dosis.
    Justin verkneift es sich, ihm von dem Skelett zu erzählen und ihm zu sagen, er solle seine Sachen zusammenpacken. Noch eine Minute, dann zieht der Junge sich an, streift ein weißen Thermo-Unterhemd mit Waffelmuster über und steigt in eine kakifarbene Nylonhose mit vielen Taschen und Reißverschlüssen an den Knien, so dass man die Hosenbeine abnehmen kann, wenn es heiß ist. Sie gehen nach draußen und sehen Justins Vater frisches Holz aufs Feuer legen. Gestern Abend hat er einen Grill aufgestellt und jetzt steigen die Flammen durch das Gitter, um den Kessel zu erhitzen. Aus dem Ausgießer steigt bereits Dampf.
    »Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden«, sagt Justin.
    Sein Vater nimmt den Blick nicht vom Feuer und stochert mit der Stiefelspitze in den Kohlen. »Ist irgendwas?«
    »Graham hat sich beim Aufwachen krank gefühlt.«
    »Grippesaison.« Er brummt es eher, als er es sagt.
    »Nicht diese Art von krank. Allergisch krank.«
    Sein Vater stöhnt auf, aber als er Graham ansieht – die geröteten Augen und die dunklen Flecken darunter –, wird seine Miene sanft. »Weißt du, was gut ist gegen Allergien?«
    »Pillen?«, fragt Graham.
    »Nein, Kaffee.«
    Graham hat sich eine Pendleton-Decke um die Schultern gewickelt und er zieht sie ein bisschen fester, als er sich ans Feuer setzt. »Kaffee schmeckt wie Dreck-Kotze.«
    »Na, der ist anders. Das ist Cowboy-Kaffee.« Er wartet, dass Graham eine Erklärung verlangt, und als er es nicht tut, bekommt er trotzdem eine. »Ein Liter Wasser. Ein Pfund Kaffee. Eine Stunde lang kochen. Eine Patrone hineinwerfen. Wenn sie schwimmt, ist er fertig.«
    »Wirklich?«
    »Nein. Nicht wirklich.« Er nimmt eine alte Sportsocke, spannt sie straff über einen Blechbecher, nimmt den Kessel vom Rost und gießt ein. Der schwarze körnige Kaffee filtert durch die Socke und füllt den Becher. »Aber stark ist er.«
    Zum Frühstück braten sie eine Pfanne Speck, kochen einen Topf Bohnen und tunken das Fett mit Toastbrot auf. Nach dem Essen sitzen sie ein paar Minuten vor dem Feuer und reiben sich zärtlich die Bäuche wie Frauen ein paar Wochen vor der Geburt. Justins Vater gießt sich

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