Wölfe der Nacht
Die Sonne steht noch nicht hoch genug, um den Canyonboden zu erhellen. Es ist ein bisschen so, als würden sie mit diesem Blick in den Abgrund in die Zukunft schauen. Sie stehen in vollem Tageslicht, unten aber ist es bereits Nacht. Oder immer Nacht.
Der Wind treibt schnell ziehende Wolken über den Himmel und macht in den Ästen ein zischendes Geräusch. Er presst ihnen die Kleidung an den Körper und zeichnet Muster in den Staub, eine feine Bewegung, die den Boden lebendig erscheinen lässt. Justin vermisst die Ruhe am Grund des Canyons und wünscht sich, der Wind würde sich legen. Er fühlt sich aufdringlich an, fast bedrohlich, wie eine Kreatur, die auf schweren Pranken eilig durch den Wald bricht, dass das Unterholz raschelt und Äste knacken.
Gute hundert Meter folgen sie dem Canyonrand, bis sein Vater vor einem Steinmal stehen bleibt. Justin stellt sich vor, dass er dieses Orientierungszeichen betrachtet und an den Pionier oder Indianer denkt, der die Steine aufeinandergestapelt hat, und sich dabei vielleicht einbildet, er sehe einen Teil von sich selbst, der unkultiviertes Territorium durchforscht und ihm mit einer Kugel und später einem Gebäude seinen Stempel aufdrückt.
Justin fragt nicht »Dad?«, bis er bemerkt, dass sein Gesicht tiefrot geworden ist, fast schon schwarz, wie von Schatten infiziert. Er läuft zu ihm.
Als Justin ihn berührt, sackt er nach vorn und seine Knie stoßen den Steinhaufen um, und als Justin noch einmal »Dad?« sagt, reagiert Paul nicht, zu sehr ist er in seinem privaten Schmerz versunken. Eine Hand umklammert den Oberschenkel, die andere schlägt auf unsichtbare Dinge in der Luft ein. Plötzlich scheint er Gewicht zu verlieren, so dass seine Jacke eher von den Schultern hängt, als seinen breiten Rücken straff zu umspannen. Binnen Sekunden wird die Röte seiner Haut zu einem Braun, dann zu einem Grau-Gelb, und diese Sekunden sind wie der Wechsel der Jahreszeiten, Winter schleicht sich in seine Erscheinung.
Und plötzlich ist es vorbei. Er schüttelt den Kopf, als wollte er Wasser abschütteln, um wieder klar zu sehen, und dann lächelt er schwach. »Nur ein kleines Motorproblem.« Er sagt das wie ein Zischen. »Geht schon wieder.« Er atmet tief durch und dann noch einmal, und das scheint ihn wieder aufzupumpen. »Okay.« Er richtet sich auf und beugt sich dann leicht vor, niedergedrückt von Schmerz oder Schwäche.
»Schau mich an«, sagt Justin. »Dad?«
Seine Augen sind leer, die Pupillen geweitet wie Einschusslöcher in die Schwärze seines Hirns. Graham packt Justin am Ärmel und sagt mit erstickter Stimme: »Was ist mit Grandpa los?«
»Alles in Ordnung. Halt einfach einen Augenblick den Mund.« Er schüttelt seinen Sohn ab, der noch einmal nach ihm greift, bevor er sich zurückzieht.
Justin schüttelt seinen Vater und ruft ihn ein paar Mal, bevor sein Körper sich strafft und er Justin wegstößt und sagt: »Ich bin ja da. Bin ja da.«
»Soll ich jemanden rufen? Ich glaube, ich sollte jemanden rufen.«
Sein Vater hebt die Hand, breit und ledrig wie ein Baseball-Handschuh, und das sagt deutlicher als Worte: Tu’s nicht.
»Bist du sicher?«
»An dem Tag, an dem ich dich frage, was zu tun ist, wirst du wissen, dass du erwachsen genug bist, es mir zu sagen.«
»Dad. Lass das. Ich muss wissen, ob du okay bist.«
»Mir geht’s gut.« Was ihn auch getroffen hat – ein Gerinnsel, das ihm Schwindel verursachte, oder eine Rhythmusstörung seines Ventrikels –, seine Schultern haben sich dagegen gestrafft. Jetzt ist es weg. Boo winselt und nähert sich ihm mit zögerlich wedelndem Schwanz, und Justins Vater tätschelt ihn und sagt: »Guter Junge. Daddy ist okay.«
Dann stapelt er die Steine wieder aufeinander, wie sie waren, und lächelt Graham leicht gequält an, der schwankend dasteht und die Lippen bewegt, als wollte er etwas sagen. Schließlich schauen Justin und sein Vater einander in die Augen und wieder weg, richten den Blick stattdessen auf das einzig sich bewegende Ding, einen weit entfernten Habicht, der breite, langsame Kreise über den Himmel zieht, jagend über ihnen schwebend wie eine Ascheflocke.
Sie rasten eine Weile und essen händeweise Studentenfutter. In dieser Zeit beobachtet Justin seinen Vater sehr genau, und nach ein paar Minuten holt er sein Handy hervor. Er weiß nicht, ob es hier funktioniert oder nicht. Es ist eher eine Geste als Begleitung zu seiner Frage: »Bist du sicher?«
Er antwortet, indem er Justin einen abschließenden
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