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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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Bäumen verschwindet.
    Jetzt erst lässt Justins Vater sein Gewehr sinken. »Ich glaube, diese Unterhaltung habe ich gewonnen.« Er grinst. Er ist stolz auf das, was er getan hat. Manchmal fragt sich Justin, ob er in seinen Mitmenschen etwas anderes sieht als komplizierte Tiere, nicht viel anders als ein Hirsch oder ein Wolf, zusammengehalten von denselben Kräften, nur von anderer Gestalt.
    »Ja. Aber zu welchem Preis?« Justin winkt mit weit ausholender Bewegung zum Lager hinüber – wo Graham steht und sie beobachtet –, als wollte er seinen Sohn wegwischen von allem, was er bereits gesehen hat.
    Sie schnallen sich die Gewehre an die Rucksäcke und brechen auf. Sie wandern am South Fork entlang – vorbei an Stromschnellen, wo das Wasser weiß dahinschießt und an Felsen und Baumstämmen reißt, als wollte es sie flussabwärts treiben –, bis sie sich verbreitert und beruhigt und glasig wird mit kleinen Wirbeln, in denen Kiefernadeln treiben.
    Boo klettert auf den schartigen Kieferknochen eines Felsens und säuft schlabbernd aus dem Fluss, bevor er am schlammigen Ufer schnuppert, wo Krötenspuren bis zu einer Stelle führen, wo Flügel zwei Abdrücke wie Farne hinterlassen haben, von einer Eule, die hier herabstieß, um zu frühstücken. Hier machen sie eine Pause, um aus ihren Wasserflaschen zu trinken, und während Graham die Spuren im Schlamm untersucht, sagt Justin zu seinem Vater: »Ich habe ein komisches Gefühl dabei, dass wir unser Lager so unbewacht lassen.«
    »Denk dir nichts. Auch wenn er wirklich zurückkommen sollte, was er nicht tun wird, was will er denn schon tun? Einen Topf zerdeppern? Auf unsere Schlafsäcke pissen? Und?«
    »Du hast ihn mit einer Waffe bedroht.«
    »Ah!« Er verzieht verächtlich den Mund. »So eine Scheiße passiert hier draußen doch die ganze Zeit. Es ist nicht schlimmer, als jemandem den Stinkefinger zu zeigen.«
    Sie steigen über Wurzeln und Felsen und treten in die Scherben aus Sonnenlicht, die wie Puzzleteile den Boden sprenkeln. Hin und wieder zieht eine Wolke vor die Sonne. Justin tritt genau in dem Augenblick in eins dieser Puzzlestücke, als eine Wolke vor die Sonne zieht und das Licht plötzlich verlöscht. Sein Fuß schiebt sich in Helligkeit und tritt auf in Schatten. Unglückshäher hüpfen und flattern durch den Wald, unsichtbar, wie jemand, der sie verfolgt.
    Justins Vater bleibt vor einem Baum mit einer gezackten schwarzen Vene mitten im Stamm stehen. »Du weißt, dass die Indianer früher ihre Pfeilspitzen in Klapperschlangenblut tauchten, das sie mit Holzkohle von einem vom Blick getroffenen Baum mischten.« Er leckt den Daumen und fährt damit über den Stamm. Als er ihn wegnimmt, ist er schwarz. Er streicht damit über die Mündung seines Gewehrs, als wäre es ein Kristallglas, dem er einen Ton entlocken will. Dann dreht er sich zu Graham um und drückt ihm den Daumen gegen die Stirn, so fest, dass der Junge einen Schritt zurückweichen muss. Als er den Daumen wegnimmt, hat Graham einen tintigen Fleck auf der Stirn. »Jetzt sind wir so weit.«
    Sie gehen weiter, steigen über herabgefallene Kiefernzapfen und Äste, die Opfer des Sturms der letzten Nacht. Eichhörnchen flitzen heran, um sie zu begutachten und verschwinden dann wieder im Unterholz. Hin und wieder bleibt sein Vater stehen, um Spuren auf dem Pfad zu studieren, die zwar vom Regen verwaschen, aber noch frisch sind. Sie sehen Stellen, wo Hirsche Rindenstreifen von den Flussweiden gerissen, wo sie ihre Losung hinterlassen, wo sie sich zum Schlafen hingelegt haben.
    Justin ertappt Graham dabei, wie er immer wieder in den Wald schaut, als würde er etwas spüren, vielleicht denkt er an Männer mit Brechstangen oder die Geschichte, die sein Großvater ihnen gestern Abend erzählt hatte.
    Die Basaltwände sind gesprenkelt mit Löchern, Hinterlassenschaften der Winderosion oder von Ausgasungen vor langer Zeit. Diese Löcher fangen die Schatten und sehen aus wie Augenhöhlen der Erde. Auf einem Serpentinenpfad steigen sie hoch zum Rand des Canyons, und während des Aufstiegs weicht das Bärengras Beifußsträuchern, die Erde verliert Feuchtigkeit, und Staub wirbelt in schweren Wolken um ihre Stiefel. Sein Vater wirft einen Schatten, auf den Justin tritt, während er ihm nach oben folgt.
    Schließlich erreichen sie das Plateau des Canyons. Der Boden hier ist durchsetzt mit schwarzem Lavagestein, das zu der tiefen, breiten, dicht bewaldeten Schlucht hin abfällt. Sie stehen da und schauen ins Weite.

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