Wölfe der Nacht
fünfzig Metern öffnet sich die Schlucht und endet in einer runden Lichtung von der Größe einer Kapelle. Der Boden ist übersät mit den Skeletten vieler Tiere, die Knochen türmen sich kniehoch, zerbrochen und verstreut und ausgebleicht von der Sonne und abgenagt von Krähen, bis nichts mehr von ihnen zu holen ist. Kieferknochen. Brustkörbe. Wirbel, die nur noch von ausgefransten Knorpelresten zusammengehalten werden. Schädel mit Flechten, die wie Haare auf ihren Knochenplatten wachsen. Zähne – große Zähne –, die lose in Kiefern klappern oder auf dem Boden verstreut liegen und Justin an die bleichen, zweiwurzeligen Knollen erinnern, die er ausgräbt, wenn er im Frühling den Rasen mit seinem Vertikutierer für die neue Aussaat vorbereitet.
Einige der Knochen sind spröde und zerbrechlich und weiß wie Papier, und sie zerbröseln unter ihren Stiefeln. Andere sind frischer, ihre Farbe ist wie das graue Fleisch alter Menschen.
Der Bock liegt mittendrin an der hinteren Wand. Die Blutspur , die zu ihm führt, ist wie ein loser Faden, der wesentlich ist für den Zusammenhalt seines Gewebes. Er rührt sich nicht, als sie durch den Knochenteppich knirschen; die reine Stille des Todes hat ihn erfasst. Justin hebt den Kopf und sieht gut zehn Meter über sich einen Kreis des Himmels, und am Rand der hohen Basaltwände sitzen Vögel in schwarzen Reihen und warten.
Graham fragt: »Was ist das für ein Ort?«
Ein Ort, an dem Dinge zusammenkommen, um sich ihrem gemeinsamen Feind, dem Tod, zu stellen.
Kunst schmückt die Wände. Vom Boden aus und so hoch, wie Justin gerade noch reichen kann, wurde jeder Quadratzentimeter des Steins geritzt oder bemalt. Hier ist eine Bärenspuren-Petroglyphe, die schräg die Wand hochwandert. Das Piktogramm einer fetten Schlange, die sich eine Steinsäule hochwindet, ihre Rassel wie eine Weintraube. Ein anderes zeigt einen Trupp Indianer auf Ponys, die Gesichter weiß gekalkt, die langen Haare zu Zöpfen geflochten und in den Händen Speere. Justin stellt sich vor, er kann in diesem Steinkreis Rasseln hören und das Klappern von Hufen und das Auf und Ab von Kriegsgesängen.
Wie die Knochen scheinen auch die Bilder im Alter gestaffelt zu sein, einige sind ausgebleicht, andere so leuchtend, dass sie auch von letzter Woche stammen könnten. An einer Stelle ist die Farbe ein intensives Rot, vielleicht von zerkauten Beeren, vermischt mit Fett als Bindemittel. Dargestellt ist eine Szene, die der ihren gleicht, eine Reflektion in einem steinernen Spiegel. Drei Männer stehen über einem Hirsch. Sie halten Speere in den Händen. Die Rücken sind gebeugt, die Beine angewinkelt, sie scheinen zu tanzen. In einem Farbfleck erkennt Justin das Gesicht seines Vaters und direkt dahinter sein eigenes in verschwommenem Rot.
»Ich dachte, Fremont hat Archäologen hier durchgeschickt«, sagt Justin.
»Der Mann zahlt gut«, sagt sein Vater.
Justin geht weiter in dem Steinkreis umher – die Knochen unter seinen Sohlen brechen und setzen einen kalkigen Staub frei, der ihn in der Nase kitzelt –, in Gedanken kehrt er zu diesem Augenblick im Rathaus zurück, in dem Tom Bear Claws mit dem Reporter im Schlepptau hereinplatzte und den Anwesenden die Meinung sagte. Er musste diesen Ort gekannt haben, und falls das so war, hätte er die Erschließung stoppen können, aber er hat es nicht getan. Was bedeutet, dass er eingeweiht, dass der Stamm eingeweiht war. Sein Auftritt bei der Versammlung war nur Theater; nichts anderes als eine Schießerei zwischen Cowboys und Indianern auf der Leinwand. Er fragt sich, was Warm Springs zu gewinnen hat, und vermutet, es hat etwas zu tun mit dem lange hinausgezögerten Cascade Locks Kasino und Freizeitpark.
Er betrachtet die Wände und entdeckt Szenen ähnlich der eben gesehenen, in denen Männer Tiere jagen und erstechen und essen, Hirsche und Bären und Kojoten. Hin und wieder gibt es eine Darstellung der Sonne. Häufig wiederholte Wellenmuster scheinen den Fluss darzustellen. Dann bemerkt er rechts von sich eine einzelne Figur, eine dunkle, buckelige Gestalt, deren große schwarze Silhouette ein Bär sein könnte oder ein Mensch, und die in dieser ganzen Röte alles andere erscheinen lässt wie künstlerische Blutspritzer.
Sie stehen über dem Hirsch. Irgendwo unter ihm gurgelt unsichtbar die Quelle des Bachs unter dem Gewirr aus Knochen. Seine Augen sind offen und reflektieren in ihrem schwarzen Starren den Himmel. Auch das Maul ist offen und die Zunge hängt
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