Wölfe der Nacht
spürte, wie der kalte Schlamm plötzlich an ihren Zehen saugte. In der grau-grünen Dämmerung öffnete sie die Augen und sah direkt neben sich einen abgebrochenen Betonblock, aus dem Stahlstangen ragten. Sie lachte bei diesem Anblick, es erregte sie, wie lebendig sie war, und ihr Lachen stieg in Form einer schwabbelnden Blase an die sonnenhelle Oberfläche des Flusses.
Das fällt ihr jetzt wieder ein, da ihr dieser altvertraute Geruch in die Nase steigt, da sie sich den Nord-Süd-Gleisen nähert, die Bend zerteilen wie ein Reißverschluss. Sie ist noch fünfzig Meter entfernt, als das Signal anfängt zu blinken und die Schranken sich senken. Sie läuft weiter und schaut die Gleise entlang und sieht einen Frachtzug, eine lange Stahlschlange, auf sie zukommen. Einen Augenblick überlegt sie, ihm zuvorzukommen und über die Gleise zu sprinten – aus demselben Grund, warum sie damals von der Brücke in den Fluss sprang, wegen der Erregung und dem Gefühl der Gefahr. Sie spurtet los und überlegt es sich dann anders, bremst und bleibt kurz vor den Gleisen auf der Stelle laufend stehen. Die Pfeife ertönt. Der Boden unter ihr fängt an zu vibrieren. Sie spürt ihren Puls im Nacken pochen.
Auf der anderen Seite der Gleise hält ein schwarzer BMW mit einem Kennzeichen, auf dem THE MAN steht. Der Fahrer hupt, und sie schaut genauer hin, späht durch die getönte Windschutzscheibe und sieht ein Gesicht, das sie kennt – weiße Zähne, weiße Haare – Bobby. Neben ihm sitzt noch jemand, eine mächtige Gestalt, die größer ist als der Beifahrersitz. Das Fenster auf der Fahrerseite fährt herunter, und Bobby winkt ihr zu. Sie erwidert den Gruß und schaut sich dann um: Die Straße hinter ihr ist verlassen bis auf einen weißen Pick-up, der mit leerlaufendem Motor und verwehender Abgasfahne zwei Blocks hinter ihr steht.
Der Zug kommt näher. Die Pfeife kreischt noch einmal und die Signalglocke klirrt und die Räder rattern. Bobby streckt den Kopf aus dem Fenster und schreit etwas, das sie nicht versteht. Und dann ist die Lokomotive zwischen ihnen und donnert vorbei und zieht unzählige, hoch mit Stämmen beladene Plattformwagen hinter sich her. Die Stämme sind entrindet, eine fleckige Mischung aus Braun und Weiß, wie ein ganzer Wald, der zu Zahnstochern zusammengestutzt wurde. Ein kräftiger Windstoß drückt vom Zug her und wirft sie einen Schritt zurück; er riecht nach Öl und Harz. Staub und Schlackesand wird hochgewirbelt und sticht ihr in die Haut. Sie hört auf zu joggen und steht auf flachen Füßen da und spürt den Boden erzittern, spürt die Kraft des Zugs ihre Beine hochsteigen, ihr Herz antreiben. Zwischen den Waggons hindurch si eht sie immer wieder Bobby, der sich noch immer aus dem Fenster lehnt und lächelnd zu ihr herüberschaut.
Und dann ist der Zug vorbei, sein Rattern verklingt, wie eine Werkzeugkiste, die eine Kellertreppe hinunterfällt. Und das Licht hört auf zu blinken und die Schranken heben sich wieder und die Welt wirkt plötzlich so still, das leise Schnurren von Bobbys Auto ist das einzige Geräusch zwischen ihnen. Sie setzt sich wieder in Bewegung, und als sie die Gleise überquert, macht ihr Herz plötzlich einen Satz, als würde noch ein Zug auf sie zurasen und sie auf die Gleise schmieren. Aber nichts passiert.
Als sie an dem Auto vorbeiläuft, schaut sie durchs offene Fenster und sieht den Indianer drin sitzen, den Indianer aus Warm Springs – Tom Bear Claws –, den Kerl, der jedes Jahr als Gastdozent in Justins Klasse kommt, den Kerl, der regelmäßig in den Zeitungen gegen Bobbys Erschließung des Echo Canyon wettert, den Kerl, über den sie und Bobby beim Mittagessen gesprochen hatten. Sie hat das völlig vergessen, erst jetzt, da sie die beiden zusammen sieht und beide sie anstarren, fällt es ihr wieder ein. »Soll ich dich mitnehmen?«, fragt Bobby.
Sie hält kurz inne. »Nee.«
»Schön, dich zu sehen.«
»Ja«, ruft sie über die Schulter, bereits an ihm vorbei.
Sie will sich beeilen, aber seine Stimme folgt ihr, holt sie ein. »Siehst gut aus.«
Sie schließt die Augen und läuft schneller, und während ihre Füße den Boden peitschen und sie vorwärtstreiben, bildet sie sich ein, sie kann die Kraft des Zugs noch immer in sich spüren, wie ein zweites Herz, das asynchron zu ihrem eigenen schlägt.
JUSTIN
Ein Traum von einem großen schwarzen Vogel flattert mit dem Aufwachen davon. Dieser Morgen ist schlimmer als der letzte. Seine Wimpern sind verklebt, sein Kissen
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