Wofuer die Worte fehlen
Vater ihn daraufhin verraten hat, wird Kristian ihm nie verzeihen. »Männergeheimnisse« sind nichts für Frauenohren, das hat der Vater ihm jahrelang eingebläut, und daran hat er, Kristian, sich auch immer gehalten.
Und nun steht der Vater da, schaut an Kristian vorbei und verrät, was die Mutter nie erfahren sollte: »Dein Sohn«, sagt er und betont das Wort »dein« so, als ob er mit Kristian nichts zu tun hätte. »Dein Sohn macht jede zweite Nacht ins Bett. Wie peinlich ist das denn? Ich will ihn doch nur vor der Blamage retten. Von mir aus kann er jeden Tag auf so eine dämliche Klassenfahrt gehen. Aber kannst du dir das Gejohle seinerFreunde vorstellen, wenn sein Bett morgens nass ist? Seine Freunde â¦Â«, der Vater lacht verächtlich auf, »⦠die werden ihn verspotten. Ich will ihm nur helfen.«
»Er macht nachts ins Bett? Seit wann das denn? Warum habe ich das nie bemerkt?« Die Mutter wird ganz still vor Entsetzen.
»Weil du nie da bist! Du weiÃt, wie es Oma Herta geht, aber von deinem Sohn hast du keine Ahnung.«
»Du tust ja gerade so, als habe ich mir das ausgesucht. Glaubst du, mir macht das SpaÃ, dies ständige Hin- und Herfahren? Meine Mutter war für mich da, als ich sie brauchte. Gegen das ganze Dorf hat sie zu mir gehalten. Jetzt bin ich dran, für sie zu sorgen.«
Dann sieht sie Kristian an, der beschämt den Kopf senkt.
»Stimmt das, was dein Vater sagt?«
Er nickt. Sein Bauch spielt verrückt. Er rennt auf die Toilette, hängt sich über das Becken und würgt das Abendessen heraus. Er spürt die Mutter hinter sich. Sie wischt ihm den Mund und die Stirn mit einem feuchten Tuch ab, bringt ihm ein Glas Wasser zum Mundausspülen. Sie nimmt ihn in den Arm und hält ihn ganz fest, als er anfängt leise zu schluchzen. Sie hält ihn fest, als die jahrelang unterdrückten Tränen seinen ganzen Körper zum Zittern bringen.
Sie bringt ihn ins Bett, deckt ihn liebevoll zu. Als sie gehen will, packt er ihren Arm so fest, das sie leise aufschreit. »Geh nicht! Bleib bei mir!« Sie streicht ihm über den Kopf, setzt sich an sein Bett und wartet, bis er eingeschlafen ist.
Als er aus der Schule kommt, hat sie schon für den nächsten Tag einen Notfalltermin beim Urologen vereinbart. Zwei Tage später steht die Diagnose fest: Mit seiner Blase ist alles in Ordnung. Er hat einen nervösen Magen, was aber alle schon vorher wussten, und bekommt Tropfen, die ihn beruhigen sollen.
Für kurze Zeit helfen die Tropfen tatsächlich, er hat weder Bauchschmerzen noch kommen nachts die bösen Träume. Aber das liegt nicht an den Tropfen, sondern daran, dass die Mutter über ihn wacht.
Auch seine anderen Probleme versucht sie mit Medikamenten zu lösen. Sie schleppt ihn von einem Arzt zum anderen. Für seine Konzentrationsschwäche und sein unruhiges Verhalten haben die Ãrzte drei Buchstaben: ADS. Es heiÃt, er habe eine Störung des Hirnstoffwechsels. Er bekommt Tabletten, die aber nicht helfen.
Dann bringt sie ihn zu der Psychologin, bei der auch sie seit Jahren in Behandlung ist, was Kristian gar nicht gewusst hat.
Er macht sich Sorgen um seine Mutter, aber die lacht nur: »Ich hab schwache Nerven, das ist alles! Du weiÃt doch, die vielen Streitereien zwischen deinem Vater und Katarina, Tag für Tag, jahrelang. Das habe ich irgendwann nicht mehr ausgehalten. Und jetzt, die Sache mit Oma Herta. Glaub nicht, dass ich euch gerne alleinelasse. Aber wer soll fahren? In einer Familie muss man zusammenhalten. Dafür muss man manchmal Opferbringen, verstehst du das?«
Kristian nickt. Ja, das versteht er nur zu gut, vor allem das mit dem Opferbringen.
»Erzähl deinem Vater nichts von der Psychologin. Das sollte ein Geheimnis zwischen uns bleiben.«
Wieder nickt Kristian. Er sammelt seit Jahren Geheimnisse.
Die Psychologin stellt ihm viele Fragen. Sie sagt ihm, dass es für die ganze Familie besser sei, wenn er mitarbeite und die Fragen beantworte.
Kristian nickt und schweigt. Sie hat ja keine Ahnung, was für seine Familie besser ist. Die Familie würde zerbrechen, wenn er redet, und darum schweigt er weiter und sie gibt nach fünf Therapiestunden auf.
»Wenn du nicht redest, kann ich dir nicht helfen«, sagt sie. »Komm wieder, wenn du bereit bist, dein Schweigen zu brechen.«
Er nickt und geht.
Seine Mutter ist enttäuscht. »Du hättest
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