Wofuer die Worte fehlen
bitte auf die Toilette �«
»O nein!« Der Lehrer schnappt vor Empörung nach Luft. »Du hörst mir jetzt bis zum Ende zu. Danach kannst du auf die Toilette gehen!«
Die Ãbelkeit steigt langsam aus Kristians Magen nach oben.
»Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht«, sagt der Lehrer. »Du kennst doch das Sprichwort. Noch kannst du deine Aussage ändern!«
Kristian schweigt. Er braucht alle Kräfte, um die Ãbelkeit unter Kontrolle zu halten.
»Und wenn es stimmt, was du da über deinen Vater sagst, na, dann wäre das ein Fall fürs Jugendamt! Ich werde zunächst mal mit deinen Eltern reden. Mein Gott, Junge, du bist ja total versaut!«
Kaum hat er das letzte Wort gesagt, da saust Kristian schon los. Herr Malert schaut ihm kopfschüttelnd nach.
Den Rest des Abends verbringt Kristian zwischen Bett und Toilette. Die Schmerzen wühlen seinen Bauch durcheinander. »Du darfst niemals darüber reden! Männergeheimnisse müssen unter Männern bleiben. Und zwar unter Männern der Familie. Es gibt Dinge, die verstehen die Leute drauÃen nicht. Sie machen etwas Schmutziges daraus. Und dann zeigen sie mit dem Finger auf die Familie. Wir beide wollen doch nicht, dass die Ehre der Familie beschmutzt wird, oder?«
Kristian ist froh, dass er an diesem Abend auf dem Zimmer bleiben kann, denn während die Jungen aus der Klasse die ganze Angelegenheit eher lustig finden und Kristian auf die Schulter klopfen und ihn als total coolen Typen feiern, regen sich die Mädchen furchtbar auf. Beim Frühstück am nächsten Morgen tun sie, als sei er Luft für sie. Beate spuckt sogar verächtlich in seinen Kakao.
Herr Malert sieht es, sagt aber nichts.
Am nächsten Tag wird Kristian nicht vom Bus abgeholt, beide Eltern arbeiten. Er ist froh darüber, denn noch weià er nicht, was er seinen Eltern sagen, wie er sie auf den Anruf des Lehrers vorbereiten soll. Das Einzige, was er ganz sicher weiÃ, ist, dass es Ãrger geben wird.
Vielleicht würden sogar einige der sorgfältig vor der Mutter gehüteten Geheimnisse aufgedeckt werden. Und vielleicht passiert dann das, was er seit Jahren fürchtet: dass die Mutter ihre Koffer packt und für immer zu Oma Herta in die Slowakei zurückgeht.
Seit sechs Jahren steht dies wie eine unsichtbare Drohung über Kristian, seit jenen Wochen, als sein Leben in zwei Teile auseinanderbrach. Ein falsches Wort, eine Träne zu viel, und schon könnte der Teil, in dem seine Mutter eine Rolle spielt, für immer verschwinden. »Du glaubst doch nicht, dass deine Mutter dich in die Slowakei mitnimmt, dass sie deinen Anblick ertragen könnte? Sie wird uns beide verlassen. Aber noch hast du es in der Hand. Es hängt von dir ab, ob sie bleibt oder geht.« Worte seines Vaters, die seinen Mund verschlossen haben.
Bislang hat die Mutter keinen Verdacht geschöpft, aber jetzt wird sie Fragen stellen. Was soll er antworten? Was wird der Vater sagen?
Mit langsamen, müden Schritten, seinen Koffer hinter sich herrollend, geht Kristian nach Hause. Dort angekommen sieht er als Erstes den drohend blinkenden Anrufbeantworter im Flur.
Herr Malerts Stimme schallt ihm entgegen. »Hier Malert,Kristians Klassenlehrer. Ich bitte um einen drin-gen-den Rückruf.«
Kristians Finger drücken automatisch auf die Taste »Löschen«. Die Worte des Lehrers lösen sich auf. Er holt tief Luft. Ein wenig Zeit gewonnen. Er weiÃ, dass Herr Malert nicht aufgeben wird. SchlieÃlich verdächtigt er ihn immer noch, auch für die Toilettenfotos im Internet verantwortlich zu sein. Nils hat alles abgestritten.
Er muss es dem Vater selber sagen, bevor die Mutter davon erfährt. Auch wenn der Vater seit damals keinen Schritt mehr in die Schule gemacht hat, noch nie zu einem Elternabend gegangen ist, sich weigert, mit den Lehrern zu reden, diesmal muss er in die Schule gehen und die Sache klären.
Kristian ist sicher, dass sein Vater wütend auf ihn werden wird. Er hätte ihn da niemals mit hineinziehen dürfen. Nicht nur Kristian fürchtet, dass die Mutter in die Slowakei zieht. Seit der Vater mit dem Geld seiner Frau seine Werkstatt eingerichtet hat, wäre eine Trennung eine finanzielle Katastrophe für ihn.
Kristian legt eine Hand auf seinen Bauch. Die Schmerzen wollen nicht aufhören.
Vorsichtshalber schaltet er den Anrufbeantworter ab. Aber er hat nicht mit Herrn Malerts
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