Wofuer die Worte fehlen
fragt sie: »Ein Ritter kommt nicht darin vor?«
Kristian schweigt. Verlegen starrt er auf seine Schuhe. Der Vater hat recht, sie arbeitet mit allen Tricks. Sie muss mit Frau Bartsch gesprochen haben. Es ist ihm peinlich, dass sie ihn bei einer Lüge erwischt hat.
Aber statt eines Vorwurfs kommt eine weitere Frage: »Wer ist Masaru?«
In Kristians Kopf schrillen alle Alarmglocken auf einmal los. Langsam, jedes Wort sorgfältig abwägend, sagt er: »Masaru ist ein Junge. Er lebt im Haus des Ritters.«
»Geht es ihm dort gut?«
Kristian legt eine Hand auf seinen Bauch. Er fängt an zu schwitzen, ihm wird übel. Frau Wischers forschender Blick wühlt in seinem Bauch wie ein Quirl im Sahnetopf.
»Mir ist schlecht!«
»Wollen wir für heute Schluss machen?«, fragt sie.
Er nickt dankbar.
Er ist mittags kaum zu Hause, als sein Vater anruft. »Na, wie warâs? Was wollte sie wissen?«
»Was ich nachmittags und abends mache â FuÃballspielen, hab ich gesagt, und zeichnen.«
»Braver Junge! Ich bin stolz auf dich!«
Es gab Zeiten, da hätte Kristian dieser Satz aus dem Mund des Vaters überglücklich gemacht. Der Vater ist stolz auf ihn!Jetzt bekommt er nur einen ganz trockenen Mund und muss in die Küche rennen, um Wasser zu trinken.
Den nächsten Termin bei Frau Wischer schwänzt er und auch den übernächsten. Er fürchtet sich, weil sie die Wahrheit ahnt. Aber sie ist ja nicht dumm, sie holt ihn einfach direkt aus dem Unterricht. Mit keinem Wort erwähnt sie die geschwänzten Termine. Er erwartet neue Fragen über Masaru, will ihr antworten, dass die Geschichte noch nicht fertig ist. Erst danach kann er Fragen beantworten. Aber an diesem Tag hat sie kein Interesse an Masaru.
»Surfst du häufiger im Internet?«
Kristian nickt. Er mag keine Fragen mehr beantworten.
»Geh freundlich und offen auf jede Frage ein. Nicht dass sie denkt, du verschweigst etwas. Ãberleg dir aber jedes Wort, was du sagst.« Die Ermahnungen des Vaters in seinem Kopf kreuzen sich mit Frau Wischers Fragen.
»Und welche Seiten siehst du dir an?«
»Alles Mögliche.«
»Auch pornografische Seiten?«
Kristian schüttelt den Kopf. Ihm wird schon übel bei dem Gedanken daran. Niemals würde er sich so etwas freiwillig ansehen.
Frau Wischer glaubt ihm nicht. »Nun schau mal, Kristian«, sagt sie mit ihrer sanftesten Stimme. »Wir wollen doch hier gemeinsam dein Problem lösen. Ich will dir dabei helfen. Aber du musst schon mit mir reden. Sieht dein Vater öfter Pornos mit dir?«
Kristian schüttelt den Kopf. »Nur einmal«, sagt er und hofft, dass sie nicht merkt, wie er lügt.
»Du und ich, wir beide wissen, dass irgendwas nicht stimmt mit dir. Du fehlst häufig in der Schule. Aber nur einen Tag. Am nächsten bist du wieder frisch und munter da. Also kannst du nicht ernsthaft krank sein.«
Kristian schweigt. In seinem Bauch grummelt es. Er legt eine Hand auf den Bauch.
»Schmerzen? Wieder im Bauch?«
Kristian nickt.
»Du hast oft Schmerzen. Kannst du sagen, was sie auslöst?«
»Immer unterschiedlich!«
»Dann schlieà jetzt mal die Augen und folge mir in Gedanken.«
Als er die Augen zumacht, hört er ganz tief in sich die Stimme seines Vaters, der warnend seinen Finger hebt: »Tu es nicht! Das ist eine Falle!«
»Stell dir einmal vor, es ist morgens. Stehst du um sieben Uhr auf?« Frau Wischers Stimme klingt wie das sanfte Plätschern eines Baches.
Kristian nickt. Er folgt der sanften Stimme, die seinem schmerzenden Bauch guttut.
»Gut. Also der Wecker klingelt. Du weiÃt, du müsstest jetzt aufstehen, frühstücken und in die Schule gehen. Aber in deinem Bauch sind diese furchtbaren Schmerzen. Kann es sein, dass du etwas Falsches zum Abendbrot gegessen hast?«
Kristian schüttelt den Kopf.
»Hattest du einen bösen Traum?«
Kristian nickt erst, zögert einen Moment, dann schüttelt er heftig den Kopf.
»Kein Traum. Es ist kein Traum!« Erschrocken macht er den Mund wieder zu.
»Also kein Traum. Was ist dann passiert? In der Nacht?«
Kristian öffnet den Mund wieder, aber die Worte in ihm sind erstarrt. Er senkt den Kopf. Nur die Tränen, die leise auf den Tisch tropfen, hat er nicht unter Kontrolle. Seine Lippen aber sind fest verschlossen. Kein weiteres Wort verlässt seinen Mund.
Eine Woche später
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