Wofuer die Worte fehlen
sitzt Kristian vergnügt auf einem Strohballen hinter dem Haus von Oma Herta und betrachtet mit zusammengekniffenen Augen die Szene auf seinem Zeichenblock. Der Schwarze Ritter in seiner Lederrüstung beugt sich über eine bewegungslos vor ihm liegende Gestalt.
Kristian nimmt den violetten Glitzerstift, tupft damit einige Punkte um den Ritter herum und verschmiert die Farbe dann mit seinem Finger zu einem bläulich-silbrigen Nacht-Schimmer, der sich um die schwarze Gestalt legt.
Kristians Finger zittern leicht, wie immer, wenn er die untere Hälfte von Takumi ausmalt.
Ein kleiner gelber Schmetterling setzt sich auf Takumis Kopf. Kristian berührt ihn ganz leicht mit seinem Finger und beobachtet, wie er davonflattert. Es ist ruhig hier hinter dem Haus. Die Erwachsenen machen ein Mittagschläfchen und die meisten seiner Cousinen und Cousins sind in die nächste Stadt gefahren. Ihnen ist es zu ruhig hier.
Genau das aber genieÃt Kristian. Schon lange hat er sich nicht mehr so wohlgefühlt. Niemand stört ihn, niemand will etwas von ihm. Den Schwarzen Ritter gibt es hier nur auf seinem Zeichenblock und auch den würde er am liebsten ganz unten in den Koffer stecken und seine Existenz vergessen. Nur für vier Tage, nur solange sie hier in der Slowakei bei Oma Herta sind.
Aber Frau Bartsch, die den ganzen Kurs zu einem Manga-Wettbewerb angemeldet hat, will nächste Woche die fertigen Zeichnungen sehen. Kristian fehlt noch das Ende und vor allem die Szene, vor der er sich fürchtet.
Reden kann er erst recht nicht darüber. Er hat keine Worte für das, was passiert ist und immer noch passiert. »Was auch immer du zu sagen hast, Kristian, solange du schweigst, werden deine Bauchschmerzen nicht aufhören.« Mit diesen Worten hat Frau Wischer die letzte Therapiestunde beendet und ihm einen Zettel in die Hand gedrückt. »Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du es dir anders überlegst.«
Der Zettel liegt unbeachtet zusammengeknüllt in seiner Schultasche. Kristian hat keine Verwendung für ihn, denn zu sagen gibt es nichts.
Aber zeichnen, das kann er. Auch wenn ihm die Szene, die jetzt kommt, vorerst nur Bauchschmerzen macht. Und wenn Frau Wischer ihn hätte zeichnen lassen, dann, ja dann wäre alles wohl herausgekommen.
Selbst das Zeichnen fällt ihm schwer. Zu Hause in seinem Zimmer kann er die Szene gar nicht malen. Aber hier, hinter Oma Hertas Haus, fühlt er sich sicher.
Neben ihm steht der Kinderwagen von Tobias, der friedlich schläft. Auch Katarina ist mit ihrem Freund in die Stadt gefahren und hat Kristian gebeten, auf den Kleinen aufzupassen. Kristian nutzt die Zeit, in der er schläft, zum Zeichnen. Sobald Tobias aufwacht, ist es vorbei mit der Ruhe. Er lernt gerade krabbeln und darf dabei nicht einen Moment aus den Augen gelassen werden.
Eine Gruppe schmutzig weiÃer Gänse biegt schnatternd um die Ecke. Die Anführerin bleibt vor Kristian stehen, knabbert an seinen Stiften, die er auf den Heuballen neben sich gelegt hat.
»Ksch! Weg mit euch!« Kristian macht eine ärgerliche Handbewegung, die die Leitgans aber nicht beeindruckt. Sie nimmt den schwarzen Stift in den Schnabel und will sich davonmachen.
»Hey, her damit!« Kristian zerrt und zerrt. Als er schlieÃlichden Stift in der Hand hält, ist der völlig zerbissen und zum Zeichnen nicht mehr zu gebrauchen. Wütend wirft er ihn weg. Ausgerechnet das Schwarz. Wie soll er jetzt seine Geschichte weiterzeichnen? Und das vor der wichtigsten Szene!
»Wir können ins Dorf fahren. Im Laden bei der Kirche gibt es sicher neue.« Peter, Kristians Cousin, hat seinen Kampf mit der Gans von Weitem verfolgt.
»Pfff!«, macht Kristian ärgerlich. So gerne er auch hier in der Slowakei bei seiner GroÃmutter ist, es bleibt nun mal ein kleines Dorf am Rande der groÃen Welt, wo es im Haus noch nicht einmal einen Internetanschluss gibt. Von Mangas haben sie hier noch nie gehört, GroÃmutter Herta betrachtet die Zeichnungen ihres Enkels mit liebevoller Verständnislosigkeit und wäre wohl vor Schreck in Ohnmacht gefallen, wenn sie gewusst hätte, was einer dieser Spezialstifte kostet.
Er hat das Geld dafür von seinem Dad bekommen, nachdem er die Therapiegespräche in der Schule so gut hinter sich gebracht hat, dass die Lehrer keinen weiteren Grund sahen, sich in »Dinge einzumischen, die sie nichts angehen«, wie der Vater es
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