Wogen der Sehnsucht
auf. Lily spürte, wie ihr der Atem stockte.
„Sieh nach.“
Sie wollte es, aber sie konnte den Blick nicht von dem Stück olivfarbener Haut abwenden, das jetzt an seinem Hals zu sehen war. Ohne darauf zu achten, machte sie sich an dem Papier zu schaffen, bis ihre Finger auf kühlen, glatten Satin trafen.
Das Kleid hatte die Farbe von antikem Elfenbein. Einen Moment lang konnte sie es nur anstarren.
„Tristan, das ist wunderschön … aber warum?“
Ein Geschenk, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen? Hatte er ein wichtiges Treffen mit einer seiner Frauen gehabt … mit einer seiner Geliebten? Das würde seine gefährliche Anspannung erklären und das Glitzern in seinen Augen.
„Weil du gestern kein weißes Kleid tragen konntest.“
Lily spürte, wie plötzlich Tränen in ihren Augen brannten. Er hatte es schon wieder getan. Jedes Mal, wenn sie gerade davon überzeugt war, dass sie mit seinen kalten Regeln leben und ihre eigenen verräterischen Gefühle verbergen konnte, tat er etwas unerwartet und unfair Liebevolles. Langsam stand sie in ihrem Top und ihrer kurzen Hose im Bett auf und hielt sich das Kleid an. Es war einfach und exquisit – kurz und eng anliegend mit einem tiefen Ausschnitt. Sie ließ es wieder fallen, lief über die zerwühlten Laken zu ihm hinüber und schlang die Arme um seinen Hals.
„Danke. Das wäre nicht nötig gewesen.“
Für einen Moment lehnte er sich an sie, dann versteifte er sich wieder, löste sich von ihr und wandte ihr den Rücken zu.
„Doch, das war es. Du brauchst heute Abend etwas zum Anziehen, und ich war nicht sicher, ob du etwas Passendes dabeihast.“
„Passend für was?“
Er drehte sich wieder zu ihr um, und bei dem Ausdruck auf seinem Gesicht zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Sie war nicht sicher, ob sie lieber vor ihm weglaufen oder ihn wieder in die Arme nehmen wollte, so wie in jener Nacht im Turm.
„Für den offiziellen Empfang für ein paar europäische Staatsoberhäupter und Banker in El Paraiso.“
„El Paraiso?“, wiederholte sie mit sinkendem Mut.
„Das Haus meiner Eltern.“
Er sagte es auf eine merkwürdig ausdruckslose Art, als würde er darauf achten, ja kein Gefühl in seine Worte zu legen. Lily erinnerte sich daran, was er damals im Garten von Stowell gestanden hatte, als sie ihm von der Schwangerschaft erzählte. Ich konnte mir die Familie nicht aussuchen, in die ich hineingeboren wurde , hatte er gesagt, und in seiner Stimme hatten all die Gefühle gelegen, die er jetzt so sorgfältig verbarg.
„Ach so“, sagte sie leise, stieg vom Bett und ging mit einem schüchternen Lächeln auf ihn zu. „Ein offizieller Empfang für die wichtigsten Finanzentscheider in Europa, bei dem ich auch deine Eltern kennenlerne. Klingt nach einem wirklich netten Abend. Jetzt verstehe ich, warum du mich mit dem Kleid bestechen musstest. Denn sonst überlege ich mir ja vielleicht, dass ich lieber ein bisschen mit dir im Bett liegen und etwas von dem Schlaf nachholen sollte, den wir gestern Abend nicht bekommen haben.“
Sie blieb vor ihm stehen und blickte zu ihm auf. Er kam ihr so groß vor, so drahtig und stark und muskulös, aber irgendwie schien das nur die Leere in seinen Augen zu unterstreichen. Sein Lächeln wirkte verbittert.
„Keine Chance. Technisch gesehen bist du jetzt meine Frau, du erinnerst dich?“
„Natürlich.“ Sie legte eine Hand flach auf seine Brust und spürte seinen Herzschlag. Ihr ganzer Körper brannte vor Sehnsucht. Sie wollte die Arme um ihn legen und die Anspannung wegstreicheln, die ihn quälte. Aber sie kannte ihn bereits gut genug, um zu wissen, dass er zu stolz war, einen solch offensichtlichen Tröstungsversuch zuzulassen.
Mit großen Augen blickte sie ihn an. „Und als deine Frau“, erklärte sie ernst, „ist es vermutlich meine Pflicht , dich zu begleiten?“
„Genau.“ Sein Lächeln wurde etwas breiter. „Du begreifst schnell.“
„Okay, dann einigen wir uns eben auf einen Kompromiss.“
Seine Augenbrauen hoben sich. „Was soll das heißen?“
Lily rollte in einer übertriebenen Geste der Verzweiflung die Augen. „Du weißt nicht, was ein Kompromiss ist?“, sagte sie mit gespieltem Entsetzen, während sie langsam sein Hemd aufknöpfte. „Es bedeutet, dass jeder von uns etwas von dem bekommt, was er möchte. Ich glaube, das gilt gemeinhin als grundlegendes Element einer Ehe – obwohl ich nicht sicher bin, ob das gleiche Prinzip auch für Vernunftehen gilt. Ich denke jedoch, wir
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