Wohin du auch fliehst - Thriller
Schreibtisch liegen und überlegte mir eine Antwort. Wenn ich für ein paar Sekunden die Augen schloss, konnte ich sein Gesicht neben mir auf dem Kissen sehen, seine blonden Haare, deren Spitzen im Schein der Nachttischlampe glänzten, seine unergründlichen blauen Augen, die mich so merkwürdig musterten. Die dunkelrote Platzwunde über seinem Auge, die langsam anschwoll, die aufgeschürfte Haut. Und trotz allem lächelte er.
Ist schon o. k.
Ich starrte ein paar Minuten auf meine Antwort und überlegte, was ich sonst noch sagen wollte: Ist schon okay, mach dir keine Gedanken, tu dir keinen Zwang an, du darfst jederzeit und in jedem Zustand bei mir vor der Tür stehen? Ist schon okay, danke dass du gekommen bist? Ist schon okay, zumindest, was den Sex anbelangt, ansonsten bin ich mir nicht so sicher?
Am Ende löschte ich meine Antwort und ließ seine SMS unbeantwortet. Wie sagte mein Englischlehrer noch so schön? Wenn man nicht weiß, was man sagen soll, sagt man am besten gar nichts.
Montag, 26. November 2007
Am Montag ging ich wieder zur Arbeit, setzte wie immer vorsichtig einen Fuß vor den anderen und war so erschöpft, dass ich mich kaum noch daran erinnern konnte, welchen Weg ich vergangene Woche genommen hatte. Die Bushaltestelle, zu der ich wollte, lag ein, zwei Kilometer entfernt, und ich war spät dran. Ich versuchte mich zu beeilen, doch ich kam nur schleppend voran. Seit Samstagabend hatte ich Stuart weder gehört noch gesehen. Soweit ich das beurteilen konnte, war er den ganzen Sonntag über in seiner Wohnung geblieben. Manchmal hörte ich Geräusche von oben, leise Schritte, eine Schranktür, Badewasser, das abgelassen wurde. Doch meist hörte ich gar nichts.
Um elf Uhr schaute Caroline vorbei.
»Kommst du mit auf einen Kaffee?«, fragte sie fröhlich.
Ich fragte mich, wie viel Schlaf sie wohl am Wochenende bekommen hatte. »Vielleicht später, ich möchte das hier noch zu Ende bringen.«
»Herrgott, du siehst total fertig aus. Ich wusste gar nicht, dass du so viel getrunken hast.«
Ich musste unwillkürlich lachen. »Na vielen Dank auch!«
»Alles in Ordnung, Cathy? Du warst am Samstag plötzlich verschwunden, Robin hat irgendwas erzählt, dass du früh ins Bett wolltest.«
»Ja – ich hab mich irgendwie – na ja, äh, ich weiß auch nicht. Ich bin nicht so der Ausgehtyp.«
Sie lächelte. »Die sind ziemlich laut, was? Die Mädchen, meine ich. Trotzdem ist das keine Ausrede. Du bist jünger als ich. Wie alt bist du? Fünfunddreißig?«
Achtundzwanzig, wollte ich eigentlich sagen, aber im Grunde war es scheißegal, wie alt ich war. Ich hätte genauso gut sechzig sein können.
»Also, du kommst dann später runter, okay? Ich will alles über den geilen Typen wissen, der über dir wohnt.« Sie zwinkerte mir zu und verschwand.
Ich hatte Angst, Robin zu begegnen. Gott sei dank arbeitete er überwiegend in einem anderen Büro. Mit ein wenig Glück würde es Monate dauern, bis er wieder auftauchte.
Ich sah aus dem Fenster und dachte an den Mann, der über mir wohnte.
Freitag, 28. November 2003
Als ich ins Paradise Café kam, saß Sylvia schon an einem Ecktisch und wartete auf mich. Sie hatte einen Tee und einen doppelten Espresso vor sich stehen. Das Fenster, an dem sie saß, war beschlagen, im Lokal war es warm und feucht, es roch gut, wie eine frische Dusche an einem Sonntagmorgen.
»Komme ich zu spät?«
»Ich habe dir keinen Muffin bestellt«, sagte sie und küsste mich begeistert auf beide Wangen. »Ich dachte, du willst dir lieber selbst einen aussuchen. Es gibt welche mit Apfel und Zimt.«
»Dann hole ich uns zwei«, sagte ich.
Das Paradise war mir so vertraut wie ein alter Freund. Vor Jahren, und zwar noch während des Studiums, hatten Sylvia und ich mit anderen Mädchen eine WG gehabt und uns hier einmal im Monat getroffen, um über unser Leben zu reden und einen Nachmittag bei Kaffee und Kuchen zu verbringen. Karen und Lesley waren weggezogen; Karen nach Kanada, sie lehrte nun an der St.-George-Universität in Toronto, und Lesley war nach Dublin zu ihrer Familie zurückgekehrt. Sylvia hatte sich letztes Jahr mit Sasha verkracht, deshalb kam die nicht mehr mit. Ab und zu erhielt ich noch eine Mail von ihr, doch sie hatte jetzt einen neuen Freund, war verlobt und umgezogen. Ihr Leben änderte sich und war nicht mehr wie das, was wir ge führt hatten.
Jetzt waren nur noch Sylvia und ich übrig. Sie war Journalistin bei einer Lokalzeitung in Lancaster, wollte aber unbedingt
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